Türkei: Chefredakteur von »Cumhuriyet« festgenommen

14 Verhaftungen angeordnet, auch Haftbefehl gegen Ex-Zeitungsleiter Dündar und Bürgermeister von Diyarbakir / Özdemir: Türkei wird eine »Art von Diktatur«

  • Lesedauer: 4 Min.

Berlin. Nach der Schließung zahlreicher kritischer Medien gehen die türkischen Behörden nun gegen die wichtigste verbliebene Oppositionszeitung »Cumhuriyet« vor: Chefredakteur Murat Sabuncu und vier weitere Journalisten wurden am Montag festgenommen, wie die Zeitung berichtete.

Die Staatsanwaltschaft habe die Festnahme von insgesamt 14 Mitarbeitern des Blattes angeordnet. Darunter sei der Vorstandsvorsitzende Akin Atalay. Außerdem sei Ex-Chefredakteur Can Dündar, der sich in Deutschland aufhält, zur Fahndung ausgeschrieben worden. Dündars Haus in Istanbul sei durchsucht worden.

Nach der von »Cumhuriyet« veröffentlichten Mitteilung der Staatsanwaltschaft wirft diese der Zeitung vor, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen unterstützt zu haben. Die Regierung beschuldigt Gülen, für den Putschversuch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Mitte Juli verantwortlich zu sein. In der Türkei ist Gülens Bewegung - wie auch die PKK - als Terrororganisation eingestuft.

»Cumhuriyet« schrieb: »Der Putsch gegen die Demokratie hat die Zeitung «Cumhuriyet» erreicht.« Die Zeitung »Cumhuriyet« war erst im September mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden. Die Right Livelihood Award Stiftung hatte zur Begründung mitgeteilt: »Zu einer Zeit, in der die Meinungsfreiheit in der Türkei zunehmend bedroht ist, beweist die «Cumhuriyet», dass die Stimme der Demokratie nicht zum Schweigen gebracht werden kann.«

LINKE-Chef Riexinger: »Pressefreiheit in Handschellen«

In Deutschland stößt das Vorgehen der türkischen Behörden auf Kritik. Der LINKEN-Vorsitzende Bernd Riexinger sagte, Erdogan »tritt die Pressefreiheit nicht mit Füßen, er führt auch sie in Handschellen ab«. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte fragte rhetorisch in Richtung Koalition: »Entschlossenes Schweigen der Bundesregierung?« Die LINKEN-Vorsitzende Katja Kipping sagte, die »Türkeipolitik der Bundesregierung ist ein beschämendes Fiasko für die unveräußerlichen Werte der Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit«.

Fünf Tage nach der Festnahme ist zudem Haftbefehl gegen den Bürgermeister von Diyarbakir, Firat Anli, erlassen worden. Über das Schicksal der ebenfalls festgenommenen Ko-Bürgermeisterin Gültan Kisanak habe das Gericht noch nicht entschieden, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag. Kisanak und Anli waren am Dienstagabend in Diyarbakir festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft wirft beiden Verbindungen zur PKK vor. Sie gehören der kurdischen Partei DBP an, dem kommunalen Ableger der im Parlament vertretenen HDP.

Der HDP-Chef Selahattin Demirtas forderte die in der Westtürkei lebenden Türken am Sonntag in Diyarbakir dazu auf, sich für die Kurden einzusetzen und warnte gleichzeitig vor einem »Massaker«. »Jene, die im Westen der Türkei leben und alle, die für eine Freiheits-, Demokratie- und Gerechtigkeits-freundliche Welt sind, werden - wenn sie heute nicht in die Stimme der Kurden mit einstimmen und die Hand, die die Kurden ihnen reichen, ergreifen - morgen nicht einmal mehr Zeit finden, zu klagen, während sie unter dem Massaker eines Hitler-Faschismus, der sie überwältigen wird, stöhnen«, sagte er laut einem von der HDP verbreiteten Transkript.

Derweil hat Grünen-Chef Cem Özdemir den türkischen Präsidenten Erdogan wegen der möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe scharf kritisiert. »Nach der Rückkehr zum Folterstaat wäre die offizielle Einführung der Todesstrafe der letzte Beleg, dass Erdogan mit der EU und westlichen Werten nichts anfangen kann«, sagte Özdemir der »Stuttgarter Zeitung« und den »Stuttgarter Nachrichten«. Diese Türkei entwickele sich zu einer modernen Art von Diktatur mit demokratischer Fassade, um das Gewissen westlicher Regierungen zu erleichtern, sagte Özdemir.

Die türkische Regierung wird nach Worten von Erdogan schon »bald« einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Todesstrafe ins Parlament einbringen. »Ich glaube, dass das Parlament zustimmen wird, und wenn mir das Gesetz vorgelegt wird, werde ich es unterschreiben«, sagte Erdogan am Samstag in einer vom Fernsehen übertragenen Rede. Seit dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli hat Erdogan immer wieder die Todesstrafe für Teilnehmer des Umsturzversuchs ins Spiel gebracht.

Bereits 150 Medien geschlossen und über 60.000 Staatsbedienstete entlassen

Mehr als drei Monate nach dem Putschversuch in der Türkei haben die Behörden in den vergangenen Tagen die Schließung zahlreicher prokurdischer Medien angeordnet und mehr als 10.000 Beamte aus dem Dienst entlassen. Unter anderem wurden mehr als 2.500 Mitarbeiter der Justiz-, mehr als 2.000 Mitarbeiter der Bildungsverwaltung sowie fast 1.300 Hochschuldozenten vom Dienst enthoben, wie aus zwei am späten Samstagabend veröffentlichten Notstandsdekreten hervorgeht. Demnach dürfen sie nicht wieder im öffentlichen Dienst beschäftigt werden. Grund für die Schließungen und Entlassungen ist laut Dekret unter anderem der Vorwurf der Terrorunterstützung. Die Namenslisten der Betroffenen werden für jeden zugänglich Online im Amtsblatt veröffentlicht.

Damit hat die türkische Führung nach dem Putschversuch bereits mehr als 150 Medien verboten und insgesamt mehr als 60.000 Staatsbedienstete entlassen. Nach Angaben von Staatsmedien sitzen derzeit mehr als 36.000 Menschen in Untersuchungshaft. Eine weitere Regelung schafft die Rektorenwahl an staatlichen Universitäten ab. Diese werden nun von Staatspräsident Erdogan direkt ernannt. Die neuen Dekrete enthalten außerdem weitere Restriktionen für Anwälte und Strafgefangene unter Terrorvorwurf. So dürfen die Treffen zwischen Verteidiger und Klient aufgezeichnet und Notizen beschlagnahmt werden. Agenturen/nd

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