Kein Empfang und kein Durchkommen
Die Geflüchteten von Calais wurden auf Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt
Der berühmt-berüchtigte Dschungel von Calais ist geräumt, doch wie ergeht es den Geflüchteten in ihren neuen Unterkünften? Wir begeben uns auf eine Recherchereise nach Rouen und Bordeaux. In Rouen, einer Hafenstadt im Norden Frankreichs werden wir von Pascal Le Moal erwartet. Der pensionierte frühere Arbeitssicherheitsbeamte ist beim »Kollektiv für die Verteidigung der Grund- und Menschenrechte« (CLDF) in der normannischen Metropole aktiv. Vor unserer Reise hatten wir ihn gefragt, ob er uns bei der Suche nach MigrantInnen, die bis zur Räumung des als Dschungel bezeichneten Flüchtlingscamps in der Nähe von Calais am Ärmelkanal lebten, weiterhelfen könne.
Nach der Räumungsaktion von Ende Oktober wurden 5500 Erwachsene und 1500 minderjährige Geflüchtete aus dem Raum Calais in insgesamt über 450 Unterkünften in ganz Frankreich untergebracht. Dort können sie für drei bis vier Monate bleiben. Was danach kommt, ist ungewiss. Es sei denn, die Geflüchteten nehmen das behördliche Angebot zur »freiwilligen Ausreise« an oder werden ins französische Asylsystem aufgenommen. Letzteres setzt voraus, dass sie nicht nach der Dublin-Verordnung nach Italien, Griechenland oder Ungarn zurückgeschoben werden können. Oder dass die Staatsmacht darauf verzichtet. Doch dafür gibt es bislang keine Anzeichen.
Im Verwaltungsbezirk Seine-Maritime, dessen Hauptstadt Rouen ist, kamen insgesamt 636 der Geflüchteten aus Calais an. Derzeit sind 342 von ihnen in Unterkünften beherbergt. Einige der anderen dürften heimlich nach Paris gegangen sein, um sich größeren Migrantengruppen anzuschließen. Andere könnten auch zum Ärmelkanal zurückgekehrt sein.
Le Moal ist froh, dass ihn die Anfrage unserer Zeitung erreichte: »Die Umverteilung erfolgte durch die Staatsmacht ohne jeden Kontakt mit unseren Initiativen und Nichtregierungsorganisationen, die seit langen Jahren im Bereich der Migrantensolidarität tätig sind«, erklärt der blondlockige Mann. Doch unsere Anfrage habe ihn dazu gebracht, sich an einer Recherche zu beteiligen, die für die örtlichen Initiativen nützlich sein könne. Bislang seien diese nicht von den Migranten, die aus Calais hierher kamen, kontaktiert worden.
Unsere Suche beginnt im Heim Colette Yver, einem schmucken Anwesen auf den Anhöhen von Rouen. Es handelt sich um ein Zentrum, das normalerweise für den Schutz von Obdachlosen gegen Kälte bestimmt ist und immer dann geöffnet wird, wenn die Außentemperaturen ein bestimmtes Niveau unterschreiten. Hier kamen die Busse mit den MigrantInnen Ende Oktober an. Doch Fehlanzeige: Das Zentrum ist bereits wieder leer, um mit dem Sinken der Temperaturen in Bälde wieder seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt zu werden.
Der Initiativenvertreter hat aber weitere Adressen auf seinem Zettel und telefoniert mit Fatima, einer Mitarbeiterin einer antirassistischen Solidaritätsinitiative. Wir gehen zum Hameau des brouettes (wörtlich »Weiler der Schubkarren«), einer Sozialeinrichtung im Stadtteil Sotteville-lès-Rouen auf der südlichen Seineseite. Tatsächlich leben hier 40 bis 50 unbegleitete Minderjährige, die zuvor in Calais waren. Einige von ihnen gehen an uns vorbei. Sie kommen aus Sudan, einer stammt aus Eritrea. Doch am Eingang stehen Sozialarbeiterinnen und Betreuerinnen, die am heutigen Mittwoch gerade Personalversammlung haben und uns an den Direktor verweisen: Ohne Genehmigung dürften wir nicht diskutieren. Es handele sich um Minderjährige, die »unter besonderem Schutz stehen« und für die der Staat die Vormundschaft ausübe. Der Direktor verweist uns freundlich an die Präfektur - also an die Vertretung des Zentralstaats in jedem französischen Bezirk, der unter anderem die Polizei und die Ausländerbehörden unterstehen. Dort leitet man uns an die Abteilung Kommunikation weiter. Man werde uns zurückrufen, heißt es.
Wir wenden uns an eine der Initiativen, die von den örtlichen Behörden mit der Unterbringung von Geflüchteten - auch aus Calais - beauftragt wurden, den Carrefour des solidarités (»Kreuzung der Solidarität«). Die Sekretärin verweist uns an den Vorstand, und der Vorstand - wieder an die Präfektur. Die Kommunikation bleibt den offiziellen Behörden vorbehalten. Irgendwann wird man uns bestimmt zurückrufen.
Auf eigene Initiative gehen wir zu einem Wohnheim, das uns aus der Ausländerinitaitive ASTI als Unterkunft für »Umverteilte« aus Calais benannt wurde. Es liegt weit außerhalb, in der Vorstadt Le Grand Quevilly, in einem tristen Neubaugebiet. Plätze für 96 Personen befinden sich an der Adresse, erfahren wir. Die BewohnerInnen seien gemischt: französische »Sozialfälle«, seit längerem ansässige Migranten und nun auch vereinzelt Geflüchtete aus Calais. In der rue Voltaire nähern wir uns dem Gebäude. Wir stoßen auf eine scheinbar hermetisch abgeschirmte Quasi-Festung. Das fünfstöckige Haus mit mehreren Reihen gleichförmiger roter Briefkästen ist solide umzäunt und videoüberwacht. Es gibt nur einen Eingang, und durch den kommt nur durch, wer eine Magnetkarte besitzt. Es zeigt sich keinerlei Lebenszeichen, abgesehen davon, dass Fahrräder und einzelne Autos im Innenbereich herumstehen. Die Menschen sind entweder irgendwo draußen bei der Arbeit - oder haben sich in ihren Zimmern verkrochen. Es gibt keinen Empfang und kein Durchkommen. Bis zum Stadtzentrum sind es mit öffentlichen Verkehrsmitteln über 30 Minuten.
»Hier zeigt sich, wie sehr die Behörden um Abschottung bemüht sind«, sagt Le Moal. Wenn den Menschen, die zuvor in Calais waren, in einigen Monaten Ablehnung oder Abschiebung drohe - wie könnten sich da Solidaritätsgruppen überhaupt mit ihnen in Verbindung setzen?
Am Vortag ergab sich in Bordeaux ein anderes Bild. Hier konnten wir Geflüchtete aus Calais im Außenstadtteil Talence - südlich vom Stadtzentrum - ausfindig machen. In Talence sind viele der MigrantInnen relativ zentral untergebracht, im Château des Arts, in der nicht allzu weit von der Stadtmitte gelegenen rue Camille-Pelletan. 49 Erwachsene ohne Kinder erhielten dort eine Unterkunft bis Ende März. Das Rathaus informierte die AnwohnerInnen in einem Schreiben, das Anfang Oktober in ihren Briefkästen landete, über die einige Wochen später erfolgende Ansiedlung der Geflüchteten aus Calais.
Anfang November kamen dann 18 unbegleitete Minderjährige aus Calais hinzu. In ihrem Falle gingen die örtlichen Behörden weitaus diskreter vor, um Öffentlichkeit nicht aufmerksam zu machen. Die Unterbringung wurde an eine Sozialinitiative übertragen, das Comité des œuvres sociales (COS), und in Hotelzimmern vorgenommen. Die Stadtverwaltung glaubte, so das geringst mögliche Aufsehen zu erregen. Doch Anfang der Woche begannen drei 16-jährige afghanische Migranten dort einen Hungerstreik. Ihren Unmut können die Behörden nicht langer verborgen halten.
Ein laut eigenen Angaben 13-Jähriger mit dem Vornamen Wasilkareem erzählt, er sei von Calais aus auf eine zwölfstündige Busreise geschickt worden. Die Fahrt ins Unbekannte führte nach Südwestfrankreich, bis hierher in den Raum Bordeaux. An Bord waren 37 unbegleitete Minderjährige, die nicht wussten, wohin ihre Reise führen sollte, und die später auf die beiden Kommunen Arès und Talence verteilt wurden.
Um die Sorgen und Ängste der Heranwachsenden zu zerstreuen, fuhren in ihrem Bus als Begleitung zwei Mitarbeiter des Home Office - des britischen Innenministeriums - mit. Dies war auch bei anderen Bussen mit unbegleiteten Minderjährigen der Fall. Ihre Aufgabe: die Jugendlichen an den Bestimmungsorten anzuhören und mit den britischen Heimatbehörden in Kontakt zu bleiben, um zu ermitteln, wer von ihnen über enge familiäre Beziehungen im Vereinigten Königreich verfügt. Wer dort nahe Angehörige hat, dies wurde den Minderjährigen versprochen, könne noch im Laufe der kommenden Monate nach England gehen. Und zwar offiziell und mit einer Fahrkarte ausgestattet, nicht auf eigene Faust und »illegal«, wie die Menschen dies von Calais aus immer wieder versucht hatten.
Doch seine Anhörung habe nur acht Minuten gedauert, berichtet Wasilkareem, und es seien nur ein paar Banalitäten abgefragt worden. Er will nach Southampton, wo ein Bruder seiner Mutter wohnt. Später sei er nochmals vorgeladen worden, und es seien ihm genau dieselben Fragen gestellt worden. Auf seine Nachfrage hin erfuhr er, man habe »sein Papier verloren«. Daraufhin brach sein Vertrauen in das Prozedere zusammen. Wie er seien viele andere Heranwachsende beunruhigt darüber, wie es weitergehe.
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