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Ein Leben ohne Hysterie
Franz Maciejewski lässt Bertha Pappenheim alias Anna O. von sich erzählen
Wenn man die in über 100 Jahren entstandene Literatur über die am 27. Februar 1859 in Wien geborene Bertha Pappenheim sichtet, hat man das Gefühl, dass es diese Frau zweimal gab. Die »erste« erlebte, wie ihr Vater 1880 schwer erkrankte. Sie pflegte ihn und wurde während der Nachtwachen von Angstzuständen und Halluzinationen befallen, die zu Sprach- und Sehstörungen, Nervenschmerzen, Lähmungen, Depressionen, Amnesien und Essstörungen führten. Der Arzt Josef Breuer wählte für sie eine neuartige Therapie: Er ließ seine Patientin, die vorübergehend des Deutschen nicht mehr mächtig war und nur Englisch redete, Geschichten erzählen und so ihre Ängste verarbeiten.
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* Franz Maciejewski: Ich, Bertha Pappenheim. Osburg Verlag. 250 S., geb., 20 €.
Breuer veröffentlichte die Krankengeschichte der Bertha Pappenheim in den zusammen mit Sigmund Freud herausgegebenen »Studien über Hysterie« (1895), wobei er das Pseudonym »Anna O.« verwendete. Anna O. galt als erste durch die Katharsis-Methode geheilte »Hysterikerin«; Freud bezeichnete Anna O. als »eigentliche Begründerin des psychoanalytischen Verfahrens«.
Da Breuer sich an seine Schweigepflicht hielt, erfuhr die Öffentlichkeit erst 1953 durch die Freud-Biografie von Ernest Jones, dass Anna O. und Bertha Pappenheim ein und dieselbe waren. Das löste bei den Bewunderern der »zweiten« Bertha Pappenheim Verwirrung und Empörung aus. Ihr Idol, diese starke, besonnene Frau - eine ehemalige Geisteskranke?
Franz Maciejewski (geboren 1946) bringt uns die »zweite« Bertha Pappenheim nahe, ohne die »erste« zu verschweigen. Anna O. wurde durch die so genannte Redekur bekannt, und einer solchen gleicht seine Biografie, denn er lässt Bertha Pappenheim erzählen. Der Leser lernt die Protagonistin Mitte der 1920er Jahre kennen, in der vielleicht besten Zeit ihres Lebens. Hannah Karminski, die sie wie eine Tochter liebt, und die anderen Mitarbeiterinnen des Jüdischen Frauenbundes wollen ihr ein besonderes Geburtstagsgeschenk machen: Leopold Pilichowski, der große jüdische Künstler, der schon Porträts von Herzl, Nordau und Einstein geschaffen hat, soll sie malen. Für Bertha Pappenheim ist es ein Anlass, über ihr Leben nachzudenken. 1888 war sie mit ihrer Mutter nach Frankfurt am Main gezogen und hatte 1895 die Leitung des jüdischen Waisenhauses für Mädchen übernommen. So kam sie dazu, über die Stellung der Frau in der Gesellschaft nachzudenken. Sie wollte die Mädchen nicht mehr nur auf die Ehe, sondern auch auf einen Beruf vorbereiten. Bald galt sie als Frauenrechtlerin. Dass jüdische Frauen Opfer, jüdische Männer allerdings auch Täter waren, konnte und wollte sie nicht verschweigen; dafür wurde sie von Rabbinern und der jüdischen Presse heftig angegriffen. Besonders am Herzen lag ihr das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg, das uneheliche junge Mädchen vor Prostitution schützen und ihnen einen Weg in die bürgerliche Gesellschaft ermöglichen sollte.
Maciejewski lässt Bertha Pappenheim auch von ihren Problemen berichten: Sie ist bei ihren Projekten oft auf männliche Hilfe angewiesen, und sie lehnt den Zionismus ab, was sie viele Verbündete kostet. Manchmal holt die Vergangenheit sie ein: 1909 nimmt sie am Weltkongress der Frauen in Toronto teil; ein Agent Sigmund Freuds besucht sie und will sie überreden, Freud auf seiner ersten Amerikareise zu begleiten. Sie aber begreift, dass Freud sie als Anna O. präsentieren will, um sich ein gutes Entree zu verschaffen, und lehnt ab.
Da ist ihr eine andere Rolle lieber, und diese nimmt sie gern an: Sie lässt sich von Pilichowski als Glückel von Hameln porträtieren. 1910 hatte sie die Memoiren dieser jüdischen Kauffrau (1646-1724) aus dem Jiddischen übersetzt, nun kann sie der ersten Jüdin, die selbst über ihr Leben berichten konnte, ein Gesicht geben. Pilichowskis Bild und einige Fotografien kann man im Buch finden. Maciejewskis einfühlsame Romanbiografie endet mit einem Verhör bei der Gestapo, das die todkranke Bertha Pappenheim aufgrund der Denunziation einer Angestellten des Heims in Neu-Isenburg über sich ergehen lassen musste. Sie starb, umsorgt von Hannah Karminski, am 28. Mai 1936.
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