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Auch in der DDR rumorte es, aber ...
Das Krisenjahr 1956 im Blick der Staatssicherheit - eine Dokumentenedition
Das Jahr 1956 wird als Krisenjahr des Kommunismus bezeichnet. Es bildete den Abschluss einer Phase der Unsicherheit und Instabilität, die mit Stalins Tod begann und drei Jahre währte. Vor 50 Jahren kulminierten die Entwicklungen in mehreren Ländern des sowjetischen Machtblocks. Die mit dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar eingeleitete Entstalinisierung führte zu einer Schwächung diverser kommunistischer Parteien. Was folgte waren Unruhen in Polen und Ungarn. In der DDR rumorte es zwar auch, ein Aufstand blieb aber aus.
Dies war keine Selbstverständlichkeit, denn auch die Macht von Walter Ulbricht geriet ins Wanken. Sowohl in der Intelligenz, als auch unter den Arbeitern wuchs die Empörung. Letzteres zeigen die nun publizierten geheimen Berichte des MfS an die Staats- und Parteiführung. Zuständig war die »Abteilung Information« (später »Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe«, ZAIG).
Herausgegeben hat den Archivband die Stasiunterlagenbehörde BStU. Egal, wie man zu jener steht: Das Buch und die gesamte, auf 37 Bände angelegte Edition versprechen neue Erkenntnisse. Die Lageberichte des MfS sagen einiges aus über die Kultur und die Struktur des Landes. Jährlich soll ein Band erscheinen, die Reihenfolge ist nicht chronologisch. Wie repräsentativ die überlieferten kritischen bzw. systemtreuen Stimmen die Meinung der Bevölkerung darstellen, kann wohl niemand sagen. Interessant sind sie allemal.
Der Band zu 1956 wurde vor knapp drei Wochen im Rahmen eines Podiumsgesprächs zwischen György Dalos und den BStU-Mitarbeitern Roger Engelmann und Henrik Bispinck präsentiert. Der ungarische Schriftsteller berichtete davon, wie er als 13-Jähriger die Ereignisse in Budapest wahrnahm und wie er sie heute sieht. Seiner Meinung nach waren der Wankelmut und die Uneinigkeit in der ungarischen Parteiführung ausschlaggebend für den Aufstand. Die Regierung habe durch ihren Zickzackkurs mit ständigen Reformen und deren Rücknahmen die Bevölkerung geradezu motiviert. Als die Revolution begann, habe die Führung Moskau um Hilfe gerufen. Geblieben seien schließlich zwei Einsichten: Die Regierung hatte in der Folge Angst, dass es wieder geschehen würde und führte deshalb den »Gulaschkommunismus« ein. Die Bevölkerung hingegen wagte keinen neuen Aufstand, da sie wusste, dass die Regierung im Notfall Moskau rufen würde.
In der DDR machten der Parteiführung, so Bispinck, die Arbeiter nach dem Trauma des 17. Juni weit mehr Sorgen als die Intellektuellen. Deren Diskussionen über Entstalinisierung, die 1956 im »Sonntag« und in der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« geführt wurden, missfielen Ulbricht allerdings auch. Nicht auszuschließen war für ihn ein Schulterschluss zwischen Arbeitern und Intelligenz, den es 1953 nicht gegeben hatte. Ungarn war der Beweis, dass so etwas passieren könnte. Dort wurde der kritisch-intellektuelle Petöfi-Klub zu einem populären Zentrum der Reformer, zu einem »Gegenparlament«, wie Dalos im Podiumsgespräch sagte.
Kurz nach den ungarischen Ereignissen wurden in der DDR Wolfgang Harich, Walter Janka und andere aus dem Aufbau-Verlag und der »Sonntag«-Redaktion verhaftet. Zudem wurde der Leipziger Kreis um Ernst Bloch zerschlagen. Im Frühjahr 1957 verurteilte man die angebliche »Gruppe Harich« im letzten Schauprozess der DDR zu harten Strafen. Die Intelligenz war damit ruhig gestellt. Wie Dalos anmerkte, handelte es sich bei Ulbricht um einen geschickten Machtpolitiker, der »kein dummer Mensch« war. Er schaffte es, das Krisenjahr zu überstehen und wurde nach den Turbulenzen in Polen und Ungarn durch das auf Stabilität setzende Moskau protegiert.
Möglicherweise war die Gefahr eines Zusammengehens von Arbeitern und Intellektuellen geringer als damals von MfS und SED befürchtet. In den geheimen Berichten von 1956 taucht die Frage der Intellektuellen jedenfalls so gut wie gar nicht auf. Bispinck mutmaßt, dass es am späten Zeitpunkt im Spätherbst lag. Ob man im Jahrgangsband 1957 mehr erfährt, bleibt abzuwarten. Auf Nachfrage des »nd«, ob nicht die von ganz »oben« angeordnete Verhaftung Grund für die geringe Berichterstattung sein könnte, verwies Engelmann auf das autobiografische Fragment des damaligen MfS-Chefs Ernst Wollweber. Dieser sei gegen die Verhaftung gewesen und wurde wenig später durch Mielke ersetzt. Das MfS, so lässt sich schlussfolgern, traf diesmal weniger die Schuld.
Zudem hielt sich in der Bevölkerung, so ist zumindest zu vermuten, das Mitleid mit den Intellektuellen in Grenzen. Wer antikommunistisch war, hatte wenig für die internen Konflikte der SED übrig. Für all jene, die auf Reformen nach dem XX. Parteitag hofften, dürfte der Einmarsch der Roten Armee in Budapest desillusionierend genug gewesen sein. Die Feststellung, dass die Intellektuellen die Bevölkerung 1953 im Stich gelassen haben, während es 1956 umgekehrt war, wird durch das Buch nicht in Frage gestellt. Es zeigt aber auf, wie und wo es in der DDR rumorte. Viele kritische Stimmen aus der Arbeiterschaft sahen während des Jahres einen neuen »17. Juni« kommen bzw. hofften darauf. Dass nur ein Funke fehlte, um den Aufstand auszulösen, ist mehrfach zu lesen. Überraschend hoch ist die Zahl der spontanen Streiks und Arbeiterproteste, die das MfS zusammengetragen hat. Wie drei Jahre zuvor fanden Arbeiter und Intellektuelle aber nicht zueinander.
Für die Rezeption des XX. Parteitags der KPdSU und der polnischen bzw. ungarischen Ereignisse in der DDR sind die geheimen Informationen des MfS ein wichtiger Forschungsbeitrag. Das Buch enthält dabei nur einen Teil der Berichte. Der gesamte Bestand hätte ca. 3000 Buchseiten gefüllt und kann ein Jahr nach Erscheinen dieses Bandes im Internet unter www.ddr-im-blick.de öffentlich eingesehen werden - ebenso wie die sieben bisher erschienenen Jahrgänge.
Die DDR im Blick der Stasi 1956. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Vandenhoeck & Ruprecht, Berlin 2016. 320 S., geb., 30 €.
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