Kräftig brodelt die Verschwörungssuppe

Das Nationaltheater Mannheim wirbelt beherzt unsere Klischees und Weltbilder zur »Migrationskrise« durcheinander

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Gefahndet wird von der Polizei nach einem entlaufenen Gerücht, das groß werden und wachsen will. Dazu bedarf es eines Körpers, dem es dafür eine Geschichte gibt. Sozusagen eine Win-Win-Situation, wenn ... ja, wenn das Gerücht eben doch nicht so falsch oder, wie man nun sagt, »postfaktisch« wäre. Wie es zu derartigen Begegnungen zwischen Geflüchteten und deren westlich konstruierter Erzählung kam, erzählt die gallige Satire »Spiel ohne Grenzen« aus der Feder des Theaterkritikers und Autors Peter Michalzik.

Vorneweg: Es ist ein fantastischer Text, ein Feuerwerk der Pointen und Polemik, ein bisweilen zum Schenkelklopfen einladendes Kabarett, das sehr genau den Zustand der deutschen Gesellschaft erfasst. Wir befinden uns in Burkhard Kosminskis Uraufführung in der titelgebenden Fernsehshow, wo so alles zusammengerührt wird, was sich seit dem vermeintlichen »Migrationsansturm« im vergangenen Jahr im Umlauf befindet: die angeblichen Massenvergewaltigungen, die »Islamisierung des Abendlandes«, die »Überfremdung«, die AfD, die - wie wir an diesem Abend erfahren - nicht nur den Zuzug reduzieren möchten, sondern zudem durch die Beseitigung des »Gender-Wahns« die Haushalte konsolidieren zu können glaubt.

Wenn die stets mit dem Publikum interagierenden Moderatoren - hinreißend gespielt von Klaus Rodewald und dem Poetry-Slammer Nektarios Vlachopoulos - loslegen und ihre zynischen Knaller zum Besten geben, geraten die verfestigten Diskurse und Stereotype der Gegenwart durcheinander. So zum Beispiel in einem Witz, der vom Aufeinandertreffen eines Amerikaners, eines Nazis, eines Relativisten, eines Griechen und vieler anderer nach einem Terrorakt in der Hölle erzählt: »Der Jude tritt mit erhobenem Zeigefinger hervor und sagt: ›Jemand hat in den Fahrstuhl gepupst!‹, ›Er war›s‹, ruft der Palästinenser und zeigt … zurück auf den Juden. ›Ja, er war‹s!‹, sagt auch der Österreicher. ›Den Fahrstuhlpups hat›s nie gegeben‹, sagt der Ostdeutsche. ›Ich bin brüskiert!‹, sagt der Westdeutsche. ›Ich bin Batman‹, sagt Batman. Sagt der Ukrainer: ›Die Moslems! Das waren die Moslems! Sowas machen die. Die kommen aus einem ganz anderen Kulturkreis.‹ Sagt der Moslem: ›Ich bin deutscher Staatsbürger …‹ Alle lachen.«

Es ist ein Spiel mit Positionen und Klischees, denen der Boden entzogen wird, eine Erschütterung unserer Normauffassungen und vermeintlich widerspruchsfreien Wertsphären. Und das alles live und in der Migrantenstadt Mannheim! Als wäre es ein Idyll für Multikulti, präsentiert ein nicht näher vorgestellter Belal Mahfouz selbst gedrehte Werbevideos über die Neckarmetropole. Während hier noch zuckersüß das Paradies der Kulturen beschworen wird, lässt ein anderer Einspieler von der Gründung eines deutschen Parteiablegers der AKP schon wieder Skepsis aufkommen. Ist das wahr, was wir sehen? Mit dieser Frage treibt die Inszenierung ein kluges Rätselspiel, das uns die eigene Paranoia und Manipulationsanfälligkeit eindringlich vor Augen führt. Denn allzu kräftig brodelt die Verschwörungssuppe.

Spätestens, als Klaus Rodewald aus dem Bühnenhintergrund mit Haube und Schürze einen Kochstudiowagen mit der Aufschrift »Gerüchteküche« vorschiebt, wird richtig aufgeheizt. »Lügenkresse« (eigentlich Basilikum) und »Tetrapack« (Salz) werden mit einer Barbiepuppe im Topf zu einem Brei aus Sexismus, Rassismus und Nationalismus verrührt: Hat die AfD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg tatsächlich 30 Prozent in Schönau eingefahren? Wurde von Geflüchteten auf die Hausfassade einer verängstigten Mannheimerin tatsächlich »Ficki Ficki« gesprayt? Und gibt es Bartträger, die keine Salafisten sind? - solcherlei groteske Geschichten entstehen auf einem schmalen Grat zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Fakt ist in diesem postfaktischen Theater nur, dass nichts so fragil ist wie die Vorstellung einer deutschen Leitkultur. Angesichts dieses freudig-bitteren, und hervorragend inszenierten Chaos‹ am Nationaltheater bleibt immerhin eine sichere Erkenntnis: Im Reigen der Absurditäten und Gerüchte braucht es vor allem Humor.

Nächste Vorstellungen: 8., 15. Dezember

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