Als Zille durch Gassen führte und flunkerte
Regina Stürickow unternahm neue Streifzüge durch das kriminelle Berlin. Von Frank-Rainer Schurich
Einen etwas anderen Guide durch die deutsche Hauptstadt hat Regina Stürickow, exzellente Kennerin der Berliner Kriminalgeschichte, verfasst. Sie begab sich auf die Spur spektakulärer Kriminalfälle 1914 bis 1933. Das Buch ist spannend und einfühlsam geschrieben. Es treten Täter, Opfer, Zeugen und Sachverständige auf - und natürlich berühmte Kommissare. Deutlich wird der schwierige Kriminalistenalltag in der Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik.
Den Reigen eröffnet Ernst Gennat, den die Kollegen ehrfurchtsvoll wegen seiner Erfolge, aber auch seiner Leibesfülle »Buddha der Kriminalisten« nannten und der heute noch als »Kommissar vom Alexanderplatz« bekannt ist (Titel eines anderen Buches der Autorin). Im Polizeipräsidium am Alex residierte die berühmte Mordkommission, die in den 1920er Jahren als ein Verdienst von Gennat die Untersuchung von Tötungsverbrechen weltweit revolutionierte. Hans Lobbes, der später half, den multiplen Mörder Adolf Seefeld in Schwerin zu überführen, tritt ebenso ins Rampenlicht wie der begabte Ermittler Dr. Ludwig Werneburg.
In den Nebenrollen trifft der Leser auf so klangvolle Namen wie Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann, die bei einem Mordopfer (einer talentierten Schneiderin für ein renommiertes Modehaus) arbeiten ließen, und Harry Frommermann, der in der Stubenrauchstraße 47 in Berlin-Friedenau die »Comedian Harmonists« gründete - in jenem Haus, in dem drei Jahre später der Tischlermeister Paul Buchwald seine Frau ermordete.
Wir erfahren, dass das »dunkle Berlin« schon immer eine Touristenattraktion war. Heinrich Zille, gerade 13 Jahre alt, führte Touristen durch die Gassen der Stadt und vermittelte ihnen mit wahren und geflunkerten Geschichten eine Verbrecherwelt, dass es den unbedarften Provinzler nur so schauderte.
Infolge der sich in den 1920er Jahre verschlechternden wirtschaftlichen Lage in der Metropole erlangte die Kriminalität eine neue, beängstigende Qualität. Es wurde schon für ein paar Pfennige gemordet. Einige Tötungsverbrechen konnten nicht aufgeklärt werden. Regina Stürickow berichtet, dass aufgrund dieser Ungewissheit Ernst Gennat großen Wert darauf legte, jeden Fall erst einmal als »Todesermittlungssache« und nicht als »Mordsache« zu betrachten.
Am Ende des Buches wird’s dann kriminologisch. Anhand der »Mordkurve«, die Hans Hyan 1931 in der von Siegfried Jacobsohn und Carl von Ossietzky herausgegeben »Weltbühne« zeichnete, weist die Autorin den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise, sozialen Ursachen und Verbrechen nach. Chapeau! Ein Buch mit kriminalistischem Spürsinn.
Regina Stürickow: Mörderische Metropole Berlin. Authentische Fälle 1914-1933. Militzke, Leipzig. 224 S., br., 14 €
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.