Als wir noch ein Ganzes waren

Arnold Stadler ist ein poetischer Schwarmgeist und furioser Erzähler

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Eigentlich erzählt Arnold Stadler immer wieder dieselbe Geschichte. Nämlich die vom Großen-Ganzen, das die Welt bekanntlich im Innersten zusammenhält: der Liebe. Und immer sind es dieselben Außenseiter, Eckensteher und Sonderlinge, denen wir da begegnen, weil sie es eben sind, die davon träumen, leiden, sich sehnen.

In diesem Fall heißen sie Mausi und Alain, ein Paar um die vierzig, das sich nach zwanzig Jahren - wir schreiben das Jahr drei von Wowereit, also 2004 - irgendwie auseinandergelebt hat. Er, Übersetzer und Jean Paul-Liebhaber, ist zu einem Übersetzersymposion nach Köln gereist, während sie in Berlin, in der heimischen Wohnung, geblieben ist. Parallel erzählen sie ihre Geschichten, parallel wird beiden der Boden unter den Füßen weggezogen. Er begegnet seiner großen Jugendliebe Babette wieder, die ihn vor zwanzig Jahren 1983 während der Freiburger Studienzeit, wo er dann auch Mausi kennenlernte, hat sitzen lassen und mit unbekanntem Ziel verschwunden ist. Sie trifft bei einem Opernbesuch mit Bekannten den jungen Dänen Jesper und ist hin und weg.

Umrahmt ist dieses dünne Handlungsgeflecht von mäandernden Erinnerungen vor allem Alains. Nach einer schlaflosen Nacht im Ibis-Hotel findet er eine Parkbank mit Blick auf Dom und Innenstadt und lässt dort Kindheit und Jugend in Arcachon, erste sexuelle Kontakte, dann die große Liebe zu Babette, schließlich die verwickelt-verwinkelten Beziehungen mit und zu den Freiburger Studienfreunden Revue passieren. Neben dem großen Liebesroman entsteht so ein ebenso beeindruckender Erinnerungstext, der die frühen 80er Jahre heraufbeschwört: die Post-68er Zeit mit ihren popkulturellen Zurüstungen, Freundschaft, Sex und Liebe in Frühzeiten von Aids, die mehrfach so genannte »Rauschzeit«. Jene Zeit, wie Alain nicht ohne Ironie sagt, »als wir noch ein Ganzes waren«.

Gelesen haben wir sicherlich schon häufiger über diese Jahre. Neu daran ist eigentlich nichts oder doch nur wenig. Allein: Der Sound macht’s, die Tonspur Arnold Stadlers, vielmehr der Wechsel der Töne, der vom elegischen Schwanengesang über die idyllische Momentaufnahme bis zum pathetischen Aufbruch reicht. Komik und Humor eingeschlossen.

Da wird die Ehe mal als die »Gummizelle der Mitläufer des Lebens« angesprochen und die Welt ein anderes Mal als »der Ort, wo uns die Zeit davonlief.« Kitsch as Kitsch can (»Wahrscheinlich beginnt jede Liebe mit einem Blick«). Aber dann gibt es Bitterböses anlässlich eines damals im Westen weit verbreiteten Che-Guevara-Fotos: »Ich sah also Che jahrelang mehrfach jeden Tag ... Auch in unsere neue Wohnung in der Eschstraße, wo Babette und ich erst in einer WG mit Toby und Mausi zusammen mehr hausten als sonst etwas ... hat Babette ihren Che mitgenommen und über unser Bett gehängt ... an der Stelle des Guten Hirten.«

Arnold Stadler ist ein poetischer Schwarmgeist und furioser Erzähler, der sein Kapital gerade aus dem bezieht, was er nicht versteht: die Liebe und das Leben. Incipit vita nova in Gestalt von Literatur. Oder in Alains Worten zum Ende des Romans hin: »Die unauflösbaren Vorhängeschlösser, die ich auch aus dieser Distanz in allen Farben am Gitter der Hohenzollernbrücke (welche Schmach in Köln!) sah, zeigten mir, dass es auch nach Romeo und Julia mit der Liebe weitergegangen war ... Und das, was jetzt folgte, verstand ich ja auch nicht und habe ich nie verstanden. Ich wusste nur, dass Liebe ein Tuwort ist.«

Arnold Stadler: Rauschzeit. Roman. S. Fischer Verlag. 552 S., geb., 26 €.

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