Vom vergnügten, gläsernen Schüler
In Südkorea können die Eltern die Lernerfolge ihres Nachwuchses live verfolgen
»Ich mag meine Lehrerin sehr. Denn sie lobt mich, wenn ich eine gute Präsentation mache. Und wenn unsere ganze Klasse gut war, freue ich mich besonders. Dann kriegen wir alle ein Geschenk. Ist das nicht cool?« So berichtet es eine Kinderstimme eines Videos, das sich eigentlich an Eltern richtet. Sind diese überzeugt, können sie sich die Applikation auf ihr Handy oder aufs Tablet laden und von dort aus den Kontakt zu ihren lernenden Sprösslingen ständig beibehalten. »Ich freue mich so!«, sagt die Kinderstimme noch gegen Ende des Videos, begleitet von bunten Farben und Zeichnungen glücklicher junger Menschen. Alles sieht aus wie eine gute Welt. Eine, in der es bestimmte Probleme, die alle kennen, nicht mehr gibt.
Sagt mein Kind die Wahrheit, wenn es von seinen Schulnoten berichtet? Bekommt der Schüler die nötige Lernunterstützung im Elternhaus? Ist sein Sozialverhalten in der Klasse gut? Alle, die über den Nachwuchs grübeln, können sich diese Fragen beantworten, wenn sie sich die Applikation des südkoreanischen Unternehmens Bravepops Company zulegen. Informationsmangel über Lernfortschritte junger Menschen soll sie zu einem Ding der Vergangenheit machen. Und dann kann sich auch kein Schüler mehr davonstehlen. »Ist das nicht cool?«, fragt die Kinderstimme im Video noch. In Südkorea offenbar schon. Mehrere Hunderttausend Nutzer zählt das neue Lernkontrollsystem schon.
Genau gesagt drei Applikationen bietet das Startup Bravepops seit kurzem zum Download an: »Student Class 123«, »Parent Class 123« und »Teacher Class 123«, jede ist mit den je zwei anderen vernetzt, die Aktualisierungen eines Nutzers werden für die anderen sichtbar. Es ist ein Protokoll über den gläsernen, aber angeblich auch glücklichen Schüler. Wie ein Videospiel, an dem alle mitspielen oder jeder gewinnen soll. Wenn etwa ein Schulkind seine Hausaufgaben erledigt hat, sollte es dies in der App angeben. Im System des Lehrers scheint die Information darüber auf, und wenn dieser das bestätigt, können die Eltern, die das auf ihrer App live verfolgen, beruhigt sein, dass ihr Kind ein braver Schüler ist. Daraufhin kann der Schüler wiederum von den Eltern mit bunten Bildern oder lustigen Animationen auf seinem Handy gelobt werden. »Bei jungen Schülern ist so etwas beliebt«, sagt Marina Yon, Marketingmanagerin von Bravepops. »Es macht die Lernkontrolle zu einem Vergnügen für alle.«
Die Lernkontrolle hört dort noch nicht auf. Einige dürften meinen: Sie geht zu weit. Schüler erhalten im System Noten, die auch im Vergleich zu den anderen Schülern aufzeigen. So sehen die Kinder, wo sie im Vergleich dastehen, ob sie Schlusslicht oder Spitzenreiter sind. Selbst in einer Klasse, in der jeder Schüler ein Einserkandidat ist, gäbe es dann wohl einen Schlechtesten, der auch als solcher zu erkennen ist. Und wenn ein Schüler etwas länger braucht für die Erledigung seiner Aufgaben, kann der Lehrer ihm im Stoppuhrmodus ein bisschen Feuer unterm Hintern machen. Dies allerdings mit einer vermeintlich lieblich tickenden Uhr und bunten Farben. Kindgerecht eben.
Einen passenderen Testmarkt als Südkorea könnte es für solche Neuentwicklungen kaum geben. Die meisten Kinder haben Smartphones, unter jüngeren Erwachsenen gibt es nicht ein Prozent, das keins besitzt. Die durchschnittliche Internetübertragungsrate ist die schnellste der Welt, der Anteil der regelmäßigen Internetnutzer an der Gesamtbevölkerung ist ebenso unübertroffen. Zudem ist es in Südkorea üblich, nach der täglichen Schule noch Nachhilfeunterricht zu nehmen, damit es nach dem Schulabschluss an eine der besten Universitäten gehen kann, da nur so die besten Jobs und der höchste Status gesichert werden können. Bildung - oder genauer gesagt: Ausbildung - ist eben selbst ein wichtiges Statussymbol.
Das ist ein globaler Trend. Mit niedrigen Geburtenraten in den reichen Ländern stecken Eltern immer mehr Aufwand in die Ausbildung ihrer Kinder. Dass Wissen auch Geld ist, hat sich überall herumgesprochen. Und je weniger Kinder eine Familie hat, desto genauer wollen sie in der Regel verfolgen, wie sich diese in der Welt so machen. Warum dann nicht auch den Eltern den ständigen Zugriff auf ihre Kinder geben? »Die Eltern unter unseren Nutzern sind sehr zufrieden. Sie schätzen die fröhliche grafische Aufbereitung, aber auch den ständigen Kontakt zu ihren Kindern und die lustigen Möglichkeiten in der App«, sagt Marina Yon. So können Eltern albern verzierte Bilder von sich ins Klassenzimmer schicken und Entsprechendes von ihren Kindern aus der Schule anfordern. Die Lehrer wiederum können Eltern über das Verhalten ihrer Kinder daheim informieren.
Auch Kinder können alle möglichen Informationen über sich veröffentlichen, von Bildern mit Mitschülern über das erhaltene Feedback der Lehrer oder ihre Noten. Über einen Avatar, das virtuelle Anzeigebild ihres Kontos, können sie sich eine Identität verpassen, die ihnen gefällt. Und die Lehrer haben es in der Hand, diesen Avatar zum Superstar der Klasse zu machen - durch die besten Noten. Was bewertet werden soll, das kann der Lehrer entscheiden, und wie, das kann er auch. »Das überlassen wir den Experten«, sagt Marina Yon. Große Freiheit also für Lehrer in der Beurteilung von Schülern. »Wir legen aber darauf Wert, dass die drei Parteien - Lehrer, Eltern und Schüler - auch unsere lustigen Funktionen so viel nutzen wie möglich.« Dann sei gesichert, dass Disziplin, ständiges Bewertetwerden und Kontrolle nicht nur als Last gesehen werden, sondern auch als Anreiz zum ständigen Fortschritt.
»Wir wollen bald global aktiv werden«, sagt Marina Yon. »Wir haben auch jetzt schon Nutzer in Europa und Nordamerika. Es sollen bald mehr werden.« Auch Lehrern gefalle die App sehr. Und die Schüler haben womöglich gar keine Wahl, dazu Nein zu sagen. Diese Fähigkeit ist es nicht, die bei »Student Class 123« gelehrt werden soll. Das müssen sich Heranwachsende wohl woanders aneignen.
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