Wir alle spielen Theater
An diesem Freitag startet wieder die intelligente RTL-Show »Ich bin ein Star, holt mich hier raus!«
Gut, dass es bei RTL Werbung gibt. Wer sich am 25. Januar 2011 am späten Abend begeistert eine neue Folge von »Ich bin ein Star - holt mich hier raus«, kurz: Dschungelcamp, ansah, konnte während der Werbeunterbrechung die ARD einschalten, um entgeistert das zu erleben, was schlichte Gemüter gerne »Bildungsfernsehen« nennen. In der Sendung »Menschen bei Maischberger« debattierte die gleichnamige Moderatorin unter dem alliterierenden Titel »Dichter, Denker, Dumpfbacken: Deutschland setzen, 6!« über die Bildungskrise. Neben dem Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar waren eingeladen: Matthias Isecke-Vogelsang, weil er Punk und Grundschulleiter ist; Eckard Freise, weil er bei »Wer wird Millionär?« Millionär wurde; Gina-Lisa Lohfink, weil sie eine vollbusige Blondine ist; Jörg Pilawa, weil er Quizsendungen moderiert und Ursula Sarrazin, weil sie Thilos Frau und Lehrerin ist. Die Gästeliste sagt bereits alles. Tatsächlich wurde derart niveaulos und unterkomplex über das Bildungsthema gequasselt, dass es hier gar nicht erst wiedergegeben werden soll.
Zum Glück hat auch die Werbung bei RTL irgendwann ein Ende und man konnte sich wieder lustvoll dem Format hingeben, das GEZ-Funktionäre mit Vorliebe, dabei eine Formulierung des biedermeierlichen Historikers Paul Nolte übernehmend, »Unterschichtenfernsehen« schimpfen. Zu sehen war dort, wie Rainer Langhans seine Kommune-Utopie im australischen Dschungel umzusetzen suchte, die einstigen Popsternchen Jay Khan und Indira Weis eine Liebesgeschichte inszenierten, Ex-Playmate Gitta Saxx über ihren nie realisierten Kinderwunsch trauerte - und wie nah der Moderator Peer Kusmagk am Wasser gebaut ist. Doch wen interessiert das? Sind das nicht bloß Klatschgeschichten, die es noch nicht einmal ins »Goldene Blatt« schaffen würden? Ja, müsste man antworten, wenn die Sendung lediglich daraus bestehen würde.
Doch das Dschungelcamp ist wesentlich komplexer, ja, es ist vielleicht eines der komplexesten Formate, die das Fernsehen je hervorgebracht hat. Auch wenn nun die elfte Staffel ausgestrahlt wird und obwohl sich vor Jahren bereits Hochkulturvertreter wie Roger Willemsen und Ulrich Matthes als Fans geoutet haben, ist die Sendung noch immer umstritten. Moniert wird von den Gegnern, es handle sich um einen medialen »Menschenzoo«, insolvente B-Promis müssten Kakerlaken verzehren und das chipsfressende Publikum zuhause johle dazu. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Teilnehmer allesamt Medienprofis mit einem mehr oder weniger kompetenten Management sind. Sie wissen, wie sie vor der Kamera wirken und wie sie sich zu inszenieren haben. Sie sind nicht zu vergleichen mit jenen, die bei RTL sonst lustvoll vorgeführt werden: Hartz-IV-Empfänger, Bauern und Schwiegermütter. Protagonisten dieser Formate werden in der Tat menschenverachtend vorgeführt, weil sie ihr mediales Bild überhaupt nicht unter Kontrolle haben können.
Von den »Dschungelköniginnen« Brigitte Nielsen, Ingrid van Bergen oder Desirée Nick kann man das keineswegs behaupten. Auch wenn die Emotionen hochkochen und manche Kandidaten fast durchzudrehen scheinen - so wirkte Mathieu Carrieres Zorn beängstigend echt - kann man dennoch nie sagen, was authentisch und was gespielt ist. Sinnvoller wäre es ohnehin, mit dem Soziologen Erving Goffman zu sagen: »Wir alle spielen Theater.« Welche Rolle wir wählen, ist situationsabhängig. Die Drag-Queen Olivia Jones war in dieser Hinsicht 2013 die interessanteste Kandidatin. Jones heißt eigentlich Oliver Knöbel, doch in der siebten Staffel bekam der Zuschauer nie Jones› private Identität zu Gesicht. Vierzehn Tage lang mimte sie den schillernden Paradiesvogel mit Perücke und viel Make-up so perfekt und »authentisch«, dass man den Privatmann hinter dieser Kunstfigur völlig vergaß.
Dieser radikale Anti-Essentialismus negierte jeden identitären Diskurs (zudem ist jede Dschungel-Crew so divers und multikulturell, wie es die Grünen gerne wären). Beim Dschungelcamp ist alles Show, selbst das Authentische. Dafür sorgen auch die Moderatoren Sonja Zietlow und Daniel Hartwich, der den 2012 verstorbenen und eigentlich unersetzbaren Dirk Bach würdig ersetzt, indem sie alles, was die Dschungelbewohner so treiben, ironisch-bissig kommentieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass es gar keine Wahrheitsmomente gäbe: Geradezu rührend war eine Szene, in der Winfried Glatzeder 2014 dem Model Larissa Marolt den Gebrauch einer Öllampe erklärte, weil der alte Mann dabei ein bisschen verliebt wirkte und zugleich gewahr wurde, dass er dem Mädchen nur noch großväterlich begegnen kann.
Zietlow und Hartwich fungieren als subjektiv kommentierende Beobachter, sie spekulieren über die Gagen der Kandidaten oder verführen offensiv die Zuschauer, für diesen oder jenen Kandidaten anzurufen, damit er eine Dschungelprüfung absolvieren muss. Ja, direkte Demokratie hat so ihre Tücken. Dass RTL nicht gerade für Qualitätsfernsehen steht, thematisieren die beiden ebenfalls frank und frei. Das mögen manche »zynisch« nennen, man könnte es aber ebenso als »entwaffnend ehrlich« bezeichnen. Während Sendungen wie »Maischberger« suggerieren, es ginge um Bildung, hat das »Dschungelcamp« diesen Anspruch überhaupt nicht und gerade deshalb ist es Fernsehen in Reinkultur. Der Medienkritiker Neil Postman schrieb 1985: »Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert.«
Eben weil das Dschungelcamp nur unterhalten will, ist es so intelligent und komplex. Gute Unterhaltung ist keinesfalls simpel. Folglich muss man das Format gleichermaßen vor vielen seiner Fans schützen, die darin bloß kurzweiliges TV-Fastfood sehen. Die Komplexität in der Show liegt darin, dass sie eine Show über die Show ist. So etwas kennt man gewöhnlich nur vom Theater. Spätestens seit Bertolt Brecht wird mit der Bühnenillusion gebrochen: Schauspieler kommentieren und agitieren zum Publikum hin, René Pollesch heftete seinen Schauspielern ihre jeweiligen Abendgage ans Kostüm und in gefühlt jeder zweiten Inszenierung werden die Kulissen weggeschoben, damit das Nackte der Theatermaschinerie zu Tage tritt. Der Verfremdungseffekt hat mit dem Dschungelcamp endgültig Einzug in die Massenkultur gehalten. Viel spannender als die ekligen Dschungelprüfungen, die als letztes konventionelles Element nur einen geringen Teil der Show ausmachen, ist es, wenn die Maschinerie von Unterhaltungsshows bloßgelegt wird: Die Kandidaten sprechen über ihre desolate berufliche Situation, die Moderatoren klagen darüber, dass die aktuelle Staffel viel langweiliger als die vergangene ist und der Zuschauer erfährt nach und nach immer neue Details über den Produktionsprozess.
Was der Medientheoretiker Boris Groys über »Big Brother« sagte, trifft genauso auf das Dschungelcamp zu: »Was die Menschen genießen (…), ist die Selbstanzeigeerstattung des Mediums, die Rituale der Selbstentlarvung und der Selbstdemaskierung, die dort stattfinden.« Das mag zwar nicht subversiv sein, doch im Theater wird man dafür gefeiert, im Fernsehen gilt es als »bildungsfern«. Dort schätzt man eine blödsinnige Talkshow über Bildung mehr als eine raffinierte und glänzend produzierte Meta-Unterhaltungsshow, bei der tatsächlich jeder, der will, zum kritischen Medienkonsumenten werden kann. Vielleicht hat Gina-Lisa Lohfink, die jetzt brünett ist, das nach ihrem Auftritt bei »Maischberger« begriffen. Sie zieht in diesem Jahr ins Dschungelcamp.
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