Wider die Selektion
Lena Tietgen findet, dass die Schulen mehr Inklusion brauchen
Jahrtausende wurden Behinderte ausgegrenzt, und selbst die Aufklärung hat diesen Zustand nicht wirklich geändert. Als behindert galten und gelten selbst Menschen, die aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fallen. Erst in den vergangenen Jahrzehnten änderte sich das Bild, und durch die Inklusion schien auch in Deutschland der Abschied von der Sonderschule eingeläutet zu werden. Auch die vielfältigen Verfahren der Diagnostik sind eine Hilfe für Pädagogen wie für Eltern. Allerdings offenbart ein genauerer Blick, dass diese Möglichkeiten so eingesetzt werden können, dass am Ende der Diagnoseverfahren - gewollt oder ungewollt - doch wieder die Selektion steht.
Was der empirischen Wissenschaft heute fehlt, ist ihre ethische, gesellschaftliche Einbindung, damit Diagnosen nicht zu einer sich selbstverstärkenden Selektion führen. Wenn sich seit Einführung der Inklusion die Zahl der Diagnosen »Lernbehinderung« erhöht hat, wie in Nordrhein-Westfalen und Hamburg geschehen, sollte man skeptisch werden. Treffen die Diagnosen zu, dann stimmt der Unterricht für diese Kinder nicht. Oder die Diagnosen sind zu willkürlich, dann sind sie für die Schulen ein billiges Mittel, sich schwieriger Kinder zu entledigen.
Je kritischer man sich der Diagnostik nähert, desto deutlicher wird, dass sie auch ein Instrument der Machtausübung ist. Wurden früher Menschen, die nicht in das normative Bild passten, als böses Omen der Götter gesehen, später dann - wissenschaftlich verbrämt - zu Nichtmenschen erklärt, fallen sie nunmehr aufgrund mangelnder Ressourcen für ihre Förderung aus dem Raster. Um aus dem Kreislauf herauszukommen, empfiehlt es sich, den angeblichen Mangel als Vielfalt zu verstehen. Die konsequente Umsetzung schulischer Inklusion wäre ein Anfang, auch für Erfahrungen einer inklusiven Gesellschaft.
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