Der gefräßige Staat braucht keine schärferen Sicherheitsgesetze

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist im »nd«-Interview nicht von der Reaktion der Bundesregierung im Fall Amri überzeugt

Sie twitterten jüngst: »Brauchen keinen gefräßigen Staat, der im Zeichen des Terrors seine Besinnung verliert.« Was heißt »gefräßig«?
Darunter verstehe ich einen Staat, dessen Befugnisse im Bereich der Sicherheitsbehörden immer weiter ausgedehnt werden und der immer mehr und möglichst umfassend alles von den Bürgerinnen und Bürgern, nicht nur von konkret Verdächtigen, wissen will und wie ein unersättlicher Moloch alle habhaften Daten in sich hineinschlingt.

Ist das Ihr Kommentar zum »Maßnahmepaket« von M & M, Thomas de Maizière und Heiko Maas?
Es hat sich inzwischen herausgestellt, dass es ein eklatantes Versagen der Sicherheitsbehörden bei der Einschätzung der Gefährlichkeit von Anis Amri und damit ganz klare Vollzugsdefizite gab. Dieser so genannte gefährliche Gefährder hätte nach geltendem Recht mehrere Monate in Haft genommen werden können. Das Zehn-Punkte-Papier vom Innen- und Justizminister geht davon aus, es gäbe Sicherheitslücken bei den Gesetzen. Diese Annahme ist falsch. Wir brauchen keine neuen Gesetze oder Gesetzesänderungen. Die Ankündigungen, jetzt werde alles besser, bringen nichts, wenn konkrete Situationen und Personen falsch eingeschätzt und geltende Gesetze nicht angewandt und vollzogen werden. Insofern kann mich dieses Paket nicht überzeugen.

Ist aber Zentralisierung in Zeiten des Terrors nicht doch sinnvoll?
Ich halte es für überhaupt nicht sinnvoll, jetzt einen föderalen Kahlschlag zu veranstalten, in dem zum Beispiel alle Landesverfassungsschutzämter ins Bundesamt für Verfassungsschutz eingegliedert werden. Ich sehe keine Notwendigkeit, das Bundesamt für Verfassungsschutz zu stärken, denn das ist bereits 2015 mit Gesetzesänderungen erfolgt. Ich sehe auch überhaupt keine Notwendigkeit, die Befugnisse des Bundeskriminalamts auszudehnen, auch das ist in der Vergangenheit geschehen. Es werden Geschütze für den Wahlkampf aufgefahren. Herr de Maizière hätte seinen Vorstoß unterlassen sollen, denn bei Bürgerinnen und Bürgern entsteht der Eindruck: Da weiß ein Innenminister nicht, was im Bereich der inneren Sicherheit bereits gemacht worden ist.

Ist die elektronische Fußfessel ein »guter Vorschlag«, wie de Maizières Kollege Maas lobte?
Das ist erstens kein neuer Vorschlag, zweitens zielt dieser offenbar darauf ab, auch ohne jegliche Verurteilung Personen Fußfesseln anzulegen, die man als gefährlich einstuft. Das ist ein erheblicher Eingriff in die Grundrechte. Das kann man auch nicht über Monate machen. Und außerdem weiß man, bei demjenigen, der die Fußfessel trägt, nicht, was er tut, sondern nur, wo er sich gerade aufhält. Ein Selbstmordattentäter lässt sich durch eine Fußfessel nicht abhalten. Das haben wir in Frankreich erlebt. Einer der Attentäter, die den Priester in einer Kirche bei Rouen ermordeten, trug Fußfesseln. Sie garantieren eben nicht mehr Sicherheit, können Anschläge nicht verhindern.

Aber die Ausweitung von Videoüberwachungen wie auch Vorratsdatenspeicherung könnten doch real Straftatsaufklärung befördern?
Es gibt bereits eine Menge von Videokameras im öffentlichen Raum. Das geltende Recht lässt schon viel zu. Münchens Polizeipräsident hat just bekannt gegeben, dass es in seiner Stadt 10 000 Kameras gibt. Und er brauche keine mehr. An Orten, wo es absolut notwendig ist, kann man solche nach geltendem Recht anbringen. Aber man sollte nicht mit lautstarken Ankündigungen bei den Bürgerinnen und Bürgern unerfüllbare Erwartungen wecken. Die Vorratsdatenspeicherung ist meiner Ansicht nach ausdiskutiert. Der Europäische Gerichtshof hat jüngst noch einmal betont, dass diese nicht anlasslos erfolgen darf, als er Gesetze für Schweden und Großbritannien verwarf.

Wie definiert man »anlasslos«?
Anlasslos heißt, dass man nicht nach Belieben und Gutdünken von allen Bürgerinnen und Bürgern, die miteinander kommunizieren, Daten sammeln und speichern darf. Das ist nicht mit den Grundrechten in Einklang zu bringen, nicht mit dem Schutz der Privatsphäre, dem Post- und Fernmeldegeheimnis und dem Persönlichkeitsrechtsschutz. Man sollte jetzt diese leidige Debatte endlich sein lassen. Außerdem hat es leider auch dort, wo die Vorratsdatenspeicherung gilt, fürchterliche Anschläge gegeben, siehe Frankreich und Belgien.

2009 schrieben Sie in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« einen Artikel unter dem Titel »Auf dem Weg in den autoritären Staat«. Sind wir diesem mittlerweile einen Schritt näher gekommen?
Immer mehr staatliche Befugnisse zu konzentrieren und zu zentralisieren, die föderale Struktur im Bereich der inneren Sicherheit deutlich zu schleifen etc. lässt dies befürchten. Die Bundesrepublik ist dennoch kein Überwachungsstaat. Aber das, was in diese Richtung geht, muss klar benannt werden.

Angela Merkel forderte am Montag, in der Sicherheitspolitik »wirklich Flagge zu zeigen«. Wie würden Sie den Bürgern Angst vor Anschlägen nehmen?
Eine wirklich vernünftige Sicherheitspolitik bedeutet, dass die Sicherheitsbehörden gut mit Personal und Kompetenzen ausgestattet sind und das geltende Recht auch anwenden. Und dass überzeugend kommuniziert wird: Es geht auch und in erster Linie um den Schutz der Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger.

Viel länger als der islamistische Terror hält der rechtsextremistische die Bundesrepublik im Würgegriff. Viele vermissen ein konsequenteres Vorgehen staatlicher Organe gegen Neonazis und Hetze in den sozialen Medien. Und warum dauert der NSU-Prozess so lange?
Ja, wir haben es parallel mit islamistischen und rechtsextremistischen Gefährdungen zu tun. Und ja, man muss gegen Volksverhetzung vorgehen, gegen Beleidigung und üble Nachrede. Ich war in der Jury für das Unwort des Jahres. Den Begriff »Volksverräter« haben wir ausgewählt, weil er ein zutiefst diffamierender ist und Assoziationen zur NS-Zeit weckt. Wenn dieser jedoch nur abstrakt fällt, ist es für die Justiz schwierig, einzuschreiten. Das Wort selbst wird man strafrechtlich nicht unterbinden können.

Zum sehr komplexen Zschäpe-Prozess: Er muss ordentlich und revisionsfest abgeschlossen werden, damit nicht Rechtsmittel aus formalen Gründen eingelegt werden können, die möglicherweise Erfolg haben. Es ist wichtig, ihn sehr sorgfältig zu führen. Dann wird am Ende auch das Urteil überzeugen.

Am 17. Januar steht das Urteil im NPD-Verbotsverfahren an. Ich hoffe, Karlsruhe verbietet diese Partei endlich im zweiten Anlauf.
Ich habe mich seinerzeit als Mitglied der Bundesregierung gegen ein NPD-Verbotsverfahren beim Bundesverfassungsgericht ausgesprochen. Weil ich die Risiken für zu groß halte. Dieser Ansicht bin ich nach wie vor. Die NPD wird bedeutungslos, das Denken bleibt. Eine Hülle zu verbieten, bringt nicht viel. Da helfen nur Aufklärung sowie präventives Vorgehen und, wenn nötig, auch repressive Mittel.

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