Altern als Chance für Neues
Im Tanzensemble »Dance On« sind die meisten TänzerInnen über 40
Brit Rodemund zählt ihre Knochen: Aus wie vielen Knochen besteht so ein Körper eigentlich? Nach dem ersten Durchgang fehlt einer. Wo ist der Knochen hin? Die austrainiert wirkende ehemalige Balletttänzerin ist nun Mitte vierzig. Zu alt für das Tanzen? Immer wieder geht sie durch ihren Körper - und die Ergebnisse des Zählens führen in jeder Runde dazu, dass ein weiterer Knochen fehlt. Beim siebten Mal habe sie es sein gelassen, sagt sie dem anwesenden Publikum. Das mit den auf ungeheuerliche Weise verschwindenden Knochen hätte sie verstört - und nicht nur sie. Die Urangst, einfach ausgelöscht zu werden, schwingt an ...
Dass es sich hier nicht um ein wirkliches Verschwinden von körpereigenen Bestandteilen handelt, sondern um eine choreografische Arbeit, die auf Notizbucheintragungen des seit einigen Jahren in Berlin lebenden libanesischen Regisseurs Rabih Mroué gründet, macht die Sache interessant. Denn in dem dritten Stück, das das »Dance On Ensemble« im Schauspiel Frankfurt zum Abschluss der von EZB und Deutscher Bundesbank ausgerichteten »Europa Kulturtage 2016« zeigt, geht es um »Sterben, Verschwinden, Abschiednehmen«.
»Water between three hands« ist ein Werk, das ganz radikal Vorstellungen von dem, was wir sicher zu haben scheinen, infrage stellt. Und im Tanz bedeutet das, dass der Körper in seinen Zuordnungen nicht mehr klar in Zeit und Raum zu verorten ist. Ein bisschen Quantenphysik auf der Tanzbühne: Es gibt keine unbeteiligte Beobachtung, alles beeinflusst sich gegenseitig. Wo fängt der Körper an, wo hört er auf? Was ist »Innenwelt«, was »Außenwelt«? Gehöre ich mir - oder einem anderen? Etwas ist nicht mehr greifbar in diesem Diskurs, wie Wasser, das durch die Finger rinnt. Oder wie Schweiß, der in Strömen fließt, bei jedem, der tanzt. Schweiß rinnt auf der Haut entlang, durchnässt die Trikots, vaporisiert sich im Raum. Aberwitzig die Vorstellung, ein Tänzer oder eine Tänzerin könnte all die auf der Bühne ein Leben lang vergossenen Schweißperlen auffangen, sie sedimentieren und trocknen - und als ein Pulver in Reinform wie eine Drogensubstanz herauskristallisieren. Was wäre wohl der Effekt dieser Substanz? »Water between three hands« spielt diese Vorstellung einfach mal durch. Zum Ende wird eine Seite aus Rabih Mroués Notizbuch gerissen und vernichtet. Das gehört zum Ritual der Inszenierung. Irgendwann werden sie das Stück nicht mehr spielen, wenn das Buch keine Seiten mehr hat.
Das »Dance On Ensemble« gibt es seit einem guten Jahr und in dieser Zeit sind erste Stücke mit renommierten Choreografen entstanden. Die speziell an der Erfahrung älterer TänzerInnen interessiert sind. Am Abend zuvor war in Frankfurt beispielsweise ein neues Stück von William Forsythe zu sehen - erstmals nach seinem Abschied als Ballettchef seiner eigenen Company vor zwei Jahren. Ein Duett - für und mit seinen Ex-Tänzern Jill Johnson und Christopher Roman einstudiert: »Catalogue (First Edition)«. Forsythe wie man ihn kennt: die typische über die Gelenke vermittelte Bewegungssprache. Wiederholungen im Bewegungsablauf, denen kleine Impulsänderungen aufmoduliert werden. Getanzte Minimal Music.
Und dann gab es am Schauspiel in Frankfurt noch Dekonstruiertes zu sehen und zu hören. Die »7 Dialogues« von und mit Matteo Fragion, der Schuberts »Erlkönig« musikalisch in seine Bestandteile zerlegt, der die sechs TänzerInnen auf der Bühne am Flügel begleitet - nein: sie antreibt, sie provoziert mit dadaistisch anmutenden Textsalven. Und damit für einige witzige Momente sorgt. Etwas im Verhältnis von Sprache und Tanz bricht auf. Dahinter steckt eine akribische Arbeit der sechs Ensemblemitglieder mit ganz unterschiedlichen Choreografen ihrer Wahl. Jede(r) tritt in einem besonderen Ausdruck hervor, der Augenschein einer ganz individuellen Tanzgeschichte wird sichtbar.
Eine Woche später trifft sich das 40-Plus-Ensemble »Dance On« wieder in Berlin. In den Uferstudios im Wedding ist die Truppe zusammengekommen. Hier ist ihr Probenort. Arbeitsatmosphäre an einem grauen Wintertag im »Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz«, das seit einigen Jahren hier junge Choreografen und Tänzer ausbildet, die nicht mal halb so alt sind wie die »Dance On«-Veteranen.
Es ist Mittagszeit, ein Break an einem quirligen Ort, eine Pause für ein schnelles Essen. Sitzplätze sind rar. Zwischen vielen Jungen nun die Alten, die Erfahrenen, die ihre Tanzkarriere eigentlich schon fast hinter sich hatten. Aber nur fast. Hier an der Schnittstelle von jungen, aufstrebenden StudentInnen und älteren, erfahreneren TänzerInnen werden auch die unterschiedlichen Konnotationen deutlich, die sich mit »Tanz« und »Alter« verbinden.
»Das ist ein allgemeines Bild in den Köpfen der Zuschauer, dass ein junger, aufstrebender Tänzer alles gibt für seine Kunstform - und dessen Körper verbraucht wird dabei«, sagt Madeline Ritter im dichten Gedränge der Cafeteria. Wer denkt da nicht gleich an die »Supertalente« in den TV-Castingshows. »Es ist aber so, dass mit dem Verbrauchen des Körpers auch Erfahrung einhergeht, also nicht nur Schmerz, sondern eine Lust am Tanzen, die auch größer werden kann, wenn man älter wird. Die Tanzkunst profitiert davon, wenn man das in die Kreation wirklich einbindet«, sagt Ritter. Das seien Aspekte, die nicht so präsent im allgemeinen Bewusstsein seien - und auch von der Kulturpolitik in der Vergangenheit als nicht förderwürdig anerkannt wurden. »Und ganz besonders in den ganzen Strukturen der Produktion des Tanzes gehen die unter. Das war der Grund, warum wir das jetzt anfangen. Dass wir denken: Das Thema ist vielleicht nicht neu, aber die Relevanz ist es.«
Madeline Ritter hat das Projekt »Dance On« für ältere Tänzer im Wesentlichen initiiert. Vor zwei Jahren wurden international Tanzkompanien angeschrieben, ob sich dort TänzerInnen für ein solches 40-Plus-Projekt interessieren könnten. Dabei wurden letztendlich sechs TänzerInnen ausgewählt. Der Ex-Forsythe-Tänzer Christopher Roman machte den Anfang. Er ist der künstlerische Leiter des Ensembles. »Für uns ist es eine wunderbare Chance, nun endlich die Verantwortung auch für unsere eigenen Stücke und Stoffe zu übernehmen, also spannende neue Projekte zu starten mit Choreografen unserer Wahl«, schildert er die neuen Möglichkeiten von »Dance On«.
International erfahrene TänzerInnen stehen ihm zur Seite mit Ty Boomershine, Amancio Gonzalez, Jone San Martin, Ami Shulman und - als einzige »Berlinerin« Brit Rodemund, ausgebildet noch zu DDR-Zeiten an der Staatlichen Ballettschule Berlin. Für Brit Rodemund gibt es keine Altersbarriere im Tanz, mehr ein allmähliches Hinübergleiten, das die Qualität der Bewegungen und der Tanzthemen verändert. »Woran man sich reibt, wo man unbedingt noch mal ran möchte, das ist jetzt unsere Chance. Manche Sachen fallen weg, andere werden wichtiger«, sagt sie über ihre neuen Perspektiven als »Dance On«-Ensemblemitglied. Altern als Chance für Neues.
Madeline Ritter stimmt zu: »Gerade wenn man den Blick über Deutschland hinausschweifen lässt: Einer der ältesten und berühmtesten Tänzer war Kazou Ohno, der noch mit hundert Jahren getanzt hat. Und wir haben in Deutschland auch Frauen wie Susanne Linke, die siebzig ist und immer noch tanzt.« Ritter findet, sie seien die Autoren ihrer eigenen Stücke und sie können mit ihren eigenen Stücken alt werden. »Die Tänzer aber, die klassischerweise Interpreten sind, also nicht ihre eigenen Stücke kreieren, da ist eine harte Grenze. Im freien Bereich scheint sie nicht ganz so hart zu sein, aber wenn man genau hinschaut, dann ist das da auch so«, sagt sie. In Deutschland gebe es eigentlich nur zwei Kompanien, das waren Pina Bausch und William Forsythe, die auch mit Ensembles gearbeitet hätten, in denen die Tänzer älter als 35 werden konnten.
Dass ein junger Tänzer seinen Körper eher kodiert, ihn für bestimmte Anforderungen trainiert - während das Projekt »Dance On« mehr daran interessiert ist zu dekodieren, ist ein weiterer Aspekt der Arbeit. Über ihre Erfahrung reflektieren sie, setzen sich damit auseinander, um zu verstehen, was eigentlich mit dem Körper passiert ist, über die Jahre hinweg.
Madeline Ritter findet die Begriffe »kodieren« und »dekodieren« interessant. »Das heißt, es gibt ein Einschreiben in den Körper. Tanz ist eine Kunstform, die von einem Körper zum anderen weiter gegeben wird. Das, was der eine gelernt hat, über die Jahre hinweg, auch als Technik, wird an die nächste Generation weiter gegeben.« Und das Interessante ist: Ein älterer Tänzer hat ganz unterschiedliche Formen kennengelernt, er hat sich ein Repertoire an Wissen erarbeitet, was nicht nur mit der Technik einhergeht. Dieses Wissen, sagt Ritter, gewinne sie erst, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht, mit unterschiedlichen Choreografen gearbeitet und ein Spektrum an Techniken kennengelernt habe.
Eine Fähigkeit des reifen Alters, die auch für andere Kunstformen gilt: »Wenn ich die Malerei oder einen Komponisten nehme - oder ganz klassischerweise die Musik: Ein Beispiel sind die ›Goldberg-Variationen‹, die Glenn Gould gespielt hat. Die hat er interpretiert, als er ganz jung war, und ist damit weltberühmt geworden. Und mit diesem ganzen Furor dieses jungen Interpreten, diesem Stürmischen, das ist alles da drin.«
20 Jahre später hat Gould sie noch mal aufgenommen. »Das klingt ganz anders«, beschreibt Madeline Ritter die Vorzüge des Alters bei der künstlerischen Produktion. »Und das war ja auch das Verblüffende für uns, wir haben keine Vorgaben gemacht. Wir haben nicht gesagt, in den Stücken soll es ums Alter gehen. Sondern die Stücke waren eine Carte blanche in der Zusammenarbeit der Regisseure, der Choreografen mit den Tänzern. Offensichtlich ist da was, was die Choreografen interessiert genau an diesen Tänzern.«
Derzeit arbeitet die amerikanische Choreografin Deborah Hay mit dem Ensemble in Berlin. Mit 75 Jahren eine der erfahrensten Choreografinnen weltweit. In einer äußerst konzentrierten Atmosphäre wird Bewegungsmaterial in den Probenstudios entwickelt, erforschen die TänzerInnen ihre Möglichkeiten im Resonanzraum zwischen Sprache, Sound und Bewegung. Hier wird noch mal die besondere Qualität und Erfahrung des »Dance On Ensembles« für jeden im Raum deutlich spürbar.
Das Ensemble tritt als nächstes mit »Water between three hands« in Köln auf: 27./28.1., Tanz an den Bühnen Köln
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.