Forschen für den Wandel
In Baden-Württemberg geht die Wissenschaft neue Wege: In sogenannten Reallaboren sind Bürger nicht nur sozialwissenschaftliche Versuchskaninchen, sondern aktiv in die Forschung eingebunden
Wenn Naturwissenschaftler forschen wollen, gehen sie ins Labor. Hier herrschen abgeschottete Experimentalbedingungen, die sie für ihre exakten Ergebnisse benötigen. Die Sozialforscher suchen dagegen zunehmend »Reallabore« auf: Untersuchungsorte mitten in der Gesellschaft. Was an die früher verbreitete soziologische »Feldforschung« erinnert, ist jedoch mehr: Die Bürger sind nicht nur wissenschaftliche Versuchskaninchen, sondern werden aktiv in die Planung und Auswertung der Reallabore einbezogen. Ein neues Modell, wie sich Wissenschaft und Zivilgesellschaft in Kooperation begegnen.
Der Ökonom Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie, hat sich in den letzten Jahren stark für die Verbreitung des neuen Forschungsansatzes eingesetzt. Er definiert das Reallabor als »einen gesellschaftlichen Kontext, in dem Forscher Interventionen im Sinne von ›Realexperimenten‹ durchführen, um über soziale Dynamiken und Prozesse zu lernen«. Der naturwissenschaftliche Labor-Begriff wird »in die Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse übertragen«.
Auf Empfehlung einer Expertenkommission, die von Schneidewind angeführt wurde, hat Baden-Württemberg 2015 als erstes Bundesland sieben »Reallabore für praxisnahe wissenschaftliche Forschung zur Nachhaltigkeit« in Betrieb genommen, die zusammen mit einer Fördersumme von sieben Millionen Euro ausgestattet sind. Für eine zweite Staffel von ebenfalls sieben Projekten zum Oberthema »Stadt« gab es vom Stuttgarter Wissenschaftsministerium acht Millionen Euro.
In den Projekten verbünden sich Wissenschaftseinrichtungen mit Bürgergruppen, um in ihrem Ort eine »nachhaltige Mobilitätskultur«, eine »klimaneutrale Hochschule« oder in einem »Space Sharing«-Konzept die »Nutzungsintensivierung durch Mehrfachnutzung« von Räumen zu erreichen. Weitere Themen sind ein nachhaltiger Umgang mit Energie, bürgernahe Bildung und die Unterstützung von Asylbewerbern. Die Projekte haben in der Regel eine Laufzeit von drei Jahren.
Das Reallabor Nordschwarzwald (ReNo), das von der Universität Freiburg zusammen mit der Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg betrieben wird, greift die Widerstände der Kommunen gegen den dort vor zwei Jahren eingerichteten ersten Nationalpark Baden-Württembergs auf. Dabei wird in Informationsaktionen der Nutzen des Naturschutzes auch für den Wirtschaftsfaktor Tourismus dargestellt. Zugleich werden die Bürger und ihre kommunalen Vertretungen in die Planung der weiteren ökologischen, sozialen und ökonomischen Entwicklung einbezogen.
Das »Urban Office Heidelberg« will in Vorbereitung der »Internationalen Bauausstellung« (IBA) im Jahre 2021 in Heidelberg Formen der »partizipativen Stadtplanung« anwenden. So soll auf Konversionsflächen ein »Lernhaus« in Kooperation von Stadtbücherei und Volkshochschule entstehen. Die Bürger können sich auch, unter Leitung der Uni Heidelberg, an der Planung eines Mehrgenerationenhauses in der Bahnstadt Heidelberg, einem Schul- und Bürgerzentrum sowie dem Aufbau einer nachhaltigen kommunalen Energieversorgung in dem Quartier beteiligen.
Das »Future-City-Lab Stuttgart« ist mit dem Ziel angetreten, das Verkehrsverhalten der Bevölkerung in einer Großstadt zu verändern. »Über eine Vielzahl von Forschungs- und Mitmachformaten soll die Bereitschaft der Menschen gefördert werden, ihr eigenes Mobilitätsverhalten zu reflektieren und sich darüber auszutauschen«, heißt es in der Projektbeschreibung des Konsortiums von sieben wissenschaftlichen Einrichtungen, angeführt von der Uni Stuttgart.
Von ganz anderem Zuschnitt ist das Reallabor »Textilwirtschaft Dietenheim«. Die 6000-Einwohner-Stadt hatte früher viele Arbeitsplätze in Textilwirtschaft und Schneiderei, bis sie dem Druck durch die billige Konkurrenz aus Fernost nicht mehr standhalten konnte. Jetzt wird das ehrgeizige Ziel verfolgt, die »Textilstadt Dietenheim zu revitalisieren«. Mit einer gläsernen Produktion und einer Designwerkstatt, über die Kunden am Designprozess beteiligt werden können, soll der Markt für neue Käufer erschlossen werden. Gleichzeitig soll mit einer Bildungsschiene »die textile Wertschöpfungskette für Kunden erfahrbar gemacht werden und so Impulse zu einem nachhaltigen Textilkonsum gesetzt werden«. Geführt wird das Reallabor von der Uni Ulm und der Hochschule Reutlingen, aber auch die Stadt und der Handwerks- und Gewerbeverein Dietenheim nebst acht Textilfirmen ziehen an einem gemeinsamen Strang, wortwörtlich.
Der baden-württembergische Ansatz der Reallabore trifft deutschlandweit zwar auf gesteigertes Interesse, hat aber - in dieser Programmform - noch keine Nachahmer gefunden. Vielerorts haben die Kooperationen zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft andere Bezeichnungen. Auch in Wuppertal, wo die Idee »Reallabor« zumindest eine Wiege hat, wird in dieser Richtung gearbeitet. So ist in der Wuppertaler Teilstadt Elberfeld geplant, das einstige Arbeiterviertel Arrenberg, inzwischen ein sozialer Problemkiez mit 5500 Einwohnern, in den nächsten Jahren zum Vorzeige-Klimaquartier umzubauen. Bis 2030 soll der Arrenberg CO2-neutral sein. Getragen wird das Transformationsprojekt vor allem von bürgerschaftlichem Engagement, die Wissenschaft ist in Form des Wuppertal-Instituts nur als Berater und Junior-Partner dabei. Selbstfahrende Busse und eine lokale Ernährungspolitik (»Essbarer Arrenberg«) sind andere Aktionsfelder des Wuppertaler »Reallabors«, das auch von der Stadtverwaltung wohlwollend begleitet wird.
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