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Im Raumschiff ein Säugling

»Wer wir waren« von Roger Willemsen - eine Zukunftsrede als Vermächtnis

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir leben im unerbittlichen Erklärungszeitalter. Gläubiges Fürchten macht sich lächerlich vor selbstherrlichem Forschen. Wo einst der Durchdrungene etwas galt, besetzt die Plätze nun der Durchblickende. Sprach man einst heißwünschend vom Offenen, so spricht unsere Moderne kalt von Entschlüsselung. Man ist in der Öffentlichkeit zuhaus und zugleich isoliert. Kommunikation, Austausch? Das ist: unter Strom stehen, der aber nicht Erleuchtung bringt, sondern uns zu Armleuchtern eines fruchtlosen Diskurstheaters machte. Das ewige Muster: Immer ist eine zynische oder ironische oder borniert ideologische Intelligenz das erschöpfte Nachspiel aller erledigten Aufbrüche. Der Sinn für das Hintergrundleuchten im Universum ging uns, so Roger Willemsen, »im Konfettiregen der Bilder« verloren.

Roger Willemsen. Der Reporter, der Essayist, der brillante Intellektuelle, der vor einem Jahr, am 7. Februar 2016, starb. Als er von seiner Krebs-Erkrankung erfuhr, stellte er die Arbeit am neuen Buch ein, es blieb ein Entwurf - eine Rede noch wurde aus den Notizen, eine »Zukunftsrede«. Unter dem Titel »Wer wir waren« ist sie jetzt erschienen, etwas über fünfzig Seiten.

Dieses Vermächtnis wie das gesamte Werk des Autors: Da probierte einer den Ausdruck so oft, bis das, was mehr zu anderen gehörte als zu ihm selber, weggelassen werden konnte. Die eigene Notwendigkeit kultivieren, darauf lief ihm alles Ausdrucksgewerbe hinaus. Das Forcierte ablegen, dem rein Funktionalen im Lebensverlauf widerstehen: »In der Unschlüssigkeit, der verweilenden, unabgeschlossenen Geste, in der Trägheit sogar tun sich Zustände der Sammlung auf. Dieses nicht effiziente, abirrende, irgendwie ausgesetzte Verhalten zur Welt, eines, dem keine App zu Hilfe eilt, ist poetisch, aus der Zeit gefallen und deshalb geeignet«, uns und diese Welt aus der »Halbdistanz« zu beobachten.

Seine Bögen schlägt Willemsen vom Hominiden vor Millionen Jahren, einem »dickfelligen, humorlosen Materialisten, der nie nach dem Sinn seines Lebens fragte«, bis zu uns heute, die wir einen »Bedeutungswandel des Bewusstseins« durchmachen. Freiheit ist Freigeschaltetwerden. Man geht nicht mehr los, man loggt sich ein; man nistet im Festplattenbau, und die Angst, abzustürzen, nimmt ab durch die Versorgung mit Sicherungskopien. Der Mensch geht unaufhörlich und beglückt ins Netz, als stehe er vor einer neuen Selbstvergottung - verdrängend, dass er doch nie den Bannkreis ewiglich beschlossenen Scheiterns verlässt.

Das schmale Buch ist Lektüre gegen die Verbarrikadierung in den Ruinen unserer Individualitätsideologie - wo wir uns von staatlich ausgebildeten Fälschern bescheinigen lassen, es seien Paläste. Es sind keine Paläste. Es ist Persönlichkeitsaufrüstung in den Armutsstätten digitaler Reizbeschüsse. In den Himmel unserer Vorbilder, so Willemsen, erhoben wir »den Rechner, ein Ebenbild, das keinen Raum lässt für die Unterbrechung, die Erschöpfung, den Irrweg, die Ratlosigkeit der Pause, den Skrupel«. Alles Wissen ist eine Einladung zur Großspurigkeit geworden, die am Display sogar jede Katastrophe kinderleicht durchspielen kann. Nur nicht die Tränen.

Wer waren wir? Es ist die Frage nach dem, was wir aufgaben, was wir verloren, wer wir geworden sind und was Zukünftige über uns mutmaßen könnten. Imaginierte Ferne ist Willemsens Frage-Ort. Was war Geschichte? Stets eine Geschichte der Warnungen, die niemand hören wollte. Ob es sich nun um Klima, Kernkraft, Krieg oder andere Formen der Verknechtung handelt. Offenbar von Natur aus verschleppt sich der Mensch nur immer in neue Verstrickungen - unterm Regime einer fatalen Koalition aus Optimisten, Kühnheitspredigern, Technokraten und Hybriden eines unersättlichen Hangs zu Endverbrauch und »Entzivilisierung«.

Wenn die Natur, wie der französische Philosoph Pierre Bayle sagte, eine Art Krankheitszustand ist und der Mensch unvergleichlich mehr zum Bösen als zum Guten neigt; wenn es, wie der Misanthrop Molière meinte, eine Narrheit ohnegleichen wäre, sich in die Verbesserung der Welt einzumischen; wenn wir täglich an uns und anderen beobachten, dass wir nicht reden, wie wir denken, und nicht handeln, wie wir reden; wenn das alles stimmt - soll man sich dann ungerührt die Hände waschen, sich vergnügt an den Essenstisch setzen, sich in Gelassenheit über die nicht änderbaren Zustände üben? Wie soll man leben - wenn man denn überhaupt am Leben sein darf, in einer Welt aus Krieg, Krebs und Katastrophen?

Leise, aber inständig schreibt Willemsen gegen den Menschen, der es »in der Kontinuität einer einzigen Realität« nicht aushält. Auf der einen Seite sind wir »Hochempfindlichkeitsmaschinen, die auf jeden sprachlichen Verstoß (Neger, Zigeuner) mit einem Alarmsignal« reagieren, andererseits ist da »die Welt der politischen Tatsachen, der Konsumentscheidungen, der Akte kollektiver Zerstörung, die wir schmerzlos quittieren«. Es ist, als fehle uns nichts, denn die Gründe für Zufriedenheit sind so zahlreich wie die für Unzufriedenheit; die Freiheit gilt den einen so gesichert wie den anderen ihre Unfreiheit, in der sie anstrengungslos und nach akzeptierten Regeln versorgt sind. Bittere Balance. »Nur Zeiten, die vieles zu wünschen übrig lassen, sind auch stark im Visionären. Diese unsere Zeit ist es nicht, deshalb befindet sich die Zukunft auch eher im Stillstand und wird einstweilen weniger imaginiert als vielmehr organisiert und kontrolliert.«

»Einstweilen.« Ein wichtiges Wort! Willemsen Denken ist von Ahnung getragen, dass jede Zeit irgendwann an ihrer Überdrehtheit erstickt. Nach der Innovationshysterie die mögliche Ruhe einer Rückwendung. Hoffnung also: Jeder Untergang ist Übergang. Romantisch darf demnach alles genannt werden, was lebt, um sich noch zu sehnen. Diesen Satz schreibe ich hin und kann nicht übermalen, dass er ausgelöst wurde vom Buch eines Gestorbenen. Man kann diesen Essay nicht lesen, ohne den Tod Willemsens mitzudenken. Wer wir waren? Im Buch steht auch der Satz: »Ich werde gewesen sein.«

In dem Stück »Die eine und die andere« von Botho Strauß gibt es ein »Museum der Zukunftsreste«, in dem all das, was als Zivilisations-(Krankheits?-)Phänomene auf uns zukommt, bereits als Vergangenheit zu besichtigen ist. Die einzige Vision läge demnach im Gedächtnis, welches jetzt schon weiß, in welches Elend wir taumeln. Willemsen schlussfolgert: Aufklärung sei nur noch denkbar, »indem wir die Geistesgegenwart retten« - also das Bewusstsein dafür, »in dieser Zeit anzukommen, nicht in der Ferne der Displays, nicht in den virtuellen Universen, nicht in der digitalen Parallelwelt des Sozialen, sondern in jener praktischen Welt, in der die Frage nach dem Überleben aller gerade neu gestellt wird.«

Der kosmische Blick des Autors auf uns, auf sich selbst endet mit Gedanken über Kosmonauten. Über den Empfindungsumschwung dieser Spitzentechnologen dort weit draußen: Ehrfurcht plötzlich, Demut, Religiosität. So schließt das Buch, als sei man unerwartet wieder am Anfang der Schöpfungsgeschichte. Der Kosmonaut im Raumschiff: wie ein Kind im Schoß der Mutter. Oder wie ein Säugling. Den nennt Roger Willemsen den »letzten kompletten Menschen«, und er begründet wunderbar, warum: »Seine Zukunft muss ihm unvorstellbar gewesen sein.« Schön, wenn man jetzt getroffen aufblickt - und weiterliest: »Sie ist es noch.« Zuversicht! Und Elend - Roger Willemsen wurde sechzig Jahre alt.

Roger Willemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede. Nachwort von Ilsa Wilke. S. Fischer, 60 S., geb., 12 €.

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