Robin Hood der Migranten
Der französische Landwirt Cédric Herrou lässt sich die Solidarität mit Geflüchteten nicht verbieten
Seit Monaten kommt der französische Bauer Cédric Herrou wenig zur Landarbeit. »Wenn nachts der Hund bellt, weiß ich, dass wieder welche gekommen sind«, sagt er - und meint Geflüchtete, die aus der 30 Kilometer entfernten italienischen Küstenstadt Vintimille kommen.
Hier befinden sich ein Grenzkontrollpunkt und ein Lager, das die Migranten aufnimmt, die hier auf ihrem Weg nach Europa gestrandet sind. Nacht für Nacht versuchen sie immer wieder, über die Grenze nach Frankreich zu gelangen. Die parallel zur Mittelmeerküste verlaufende Autobahn nehmen nur jene, die Schlepper dafür bezahlen können, dass diese sie in einem Auto versteckt hinüberschmuggeln. Mit der Bahn nach Frankreich zu fahren ist riskant. Fast immer werden die Züge nach Flüchtlingen durchkämmt, die in Menton, dem nächsten französischen Bahnhof, herausgeholt und umgehend nach Italien abgeschoben werden. Daher versuchen es immer mehr Migranten über eine nach Norden führende Nebenstraße, die zur Grenze führt und ins Roya-Tal mündet.
Hier liegt das Dorf Breil-sur-Roya, wo Cédric Herrou lebt und wo fast täglich Migranten vor seiner Tür oder der anderer Einwohner stehen. Der 37-Jährige war in seinem früheren Leben ein mäßig erfolgreicher Konzertveranstalter. Dann kaufte er sich 2004 im nordöstlich von Nizza gelegenen Alpendorf Breil-sur-Roya billig ein kleines Haus am Berghang mit einem terrassenförmig ansteigenden Garten, wo ein paar uralte Olivenbäume stehen. Deren Ernte und eine kleine Hühnerzucht sichern seinen bescheidenen Lebensunterhalt.
Mit den Geflüchteten, die auf ihrer Flucht durch das Roya-Tal kommen, ist er erst seit etwa zwei Jahren konfrontiert. »Damals habe ich angefangen, die Straße entlangkommende Flüchtlinge mit dem Auto mitzunehmen und am nächsten Bahnhof abzusetzen«, erinnert er sich. »Ich habe sie nicht gefragt, ob sie gültige Papiere haben oder nicht.«
Mit der Wiedereinführung der Grenzkontrollen im Juni 2015 als Folge der Terroranschläge von Paris und der Verhängung des Ausnahmezustands änderte sich die Lage. Jetzt mussten Geflüchtete und Helfer vor den Patrouillen der Polizei, der Gendarmerie oder der Armee auf der Hut sein, die sich auf einen 20 Kilometer breiten Streifen auf französischer Seite der Grenze konzentrieren. 2015 wurden 27 000 Migranten aufgegriffen und zurückgeschickt, 2016 waren es 35 000.
Seitdem kommen die Migranten aus Italien fast nur noch nachts und viele landen erschöpft auf Herrous Grundstück. Der hat daher zwei alte Campingwagen gekauft und im Garten aufgestellt. Hier übernachten jetzt täglich bis zu zwei Dutzend Menschen. Sie können sich ausruhen, bekommen zu essen und wenn nötig werden sie medizinisch versorgt. Dann bringt sie Herrou oder ein anderer Dorfbewohner mit dem Auto zu einem Bahnhof, der außerhalb des 20-Kilometer-Streifens liegt und daher für die Flüchtlinge relativ sicher ist.
Im vergangenen Oktober standen einmal sogar mehr als 60 Geflüchtete in Herrous Garten und blickten ihn hilfesuchend an. Kurz entschlossen führte er sie zu einem leer stehenden Gebäude der Bahn im Nachbarort. Dieses quasi besetzte Haus diente einige Tage lang als »erstes und einziges Empfangs- und Orientierungszentrum des Departements«, wie Herrou mit Anspielung auf die offiziellen Einrichtungen für Geflüchtete scherzhaft sagt. Dann kam eine Einheit der Bereitschaftspolizei, hat den Schuppen geräumt und die Migranten nach Italien abgeschoben.
Cédric Herrou ist nicht der einzige, der den Migranten hilft. Der Verein Roya Citoyenne, dessen Vorsitzender er ist, zählt mehr als 250 Mitglieder. Ständig werden es mehr. Spätestens seit Herrou es mit der Überschrift »Brüderlichkeit in Aktion« bis auf die Titelseite der »New York Times« geschafft hat, strömen dem Verein aus dem In- und Ausland zahllose Spenden von Privatleuten zu.
Um die Geldstrafe in Höhe von 3000 Euro, zu der Herrou ein Gericht in Nizza am vergangenen Freitag verurteilt hat, muss er sich also keine Sorgen machen. Ihm wurde vorgeworfen, afrikanischen Migranten geholfen zu haben, im Juristen-Duktus: »Beihilfe zur illegalen Einreise sowie zur Bewegung und dem Aufenthalt in Frankreich«. Aber die Richter bescheinigten dem Angeklagten, dass er »uneigennützig und aus humanitären Beweggründen« gehandelt habe und dass man »Hilfesuchenden nicht seine Tür verschließen« könne. Allerdings sei nicht nachgewiesen, dass er »nur von Fall zu Fall« Hilfe geleistet hat.
Der Prozess hatte schon im Januar stattgefunden, der Staatsanwalt acht Monate Gefängnis mit Bewährung gefordert. Dem Buchstaben des Gesetzes nach hätten es sogar bis zu fünf Jahre Gefängnis und 30 000 Euro werden können. Die Richter hatten sich jedoch vier Wochen Zeit für ihr Urteil gelassen. Dass er im Wiederholungsfall die 3000 Euro Geldstrafe wird zahlen müssen, ist sehr wahrscheinlich, denn Herrou ist nach wie vor nicht gewillt, »tatenlos zu bleiben und die Augen zu verschließen«.
Mitte Januar, also nur zwei Wochen nach seinem Prozess, wurde er erneut von der Polizei nahe der Grenze mit mehreren afrikanischen Migranten im Auto angehalten. Es folgten für die Geflüchteten die Abschiebung zurück nach Italien und für Herrou mehrere Stunden Gewahrsam und Verhör auf dem Polizeiposten, bevor er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde - diesmal ohne Anzeige bei der Justiz.
Cédric Herrou ist in einem Arbeitervorort der Mittelmeerstadt Nizza geboren und aufgewachsen. »Wir waren 25 Jahre lang eine Pflegefamilie für Kinder, die uns die Sozialbehörde anvertraut hat«, schrieb seine heute 66 Jahr alte Mutter in einem Brief, der im Prozess verlesen wurde. »Cédric war fünf, als die ersten ins Haus kamen. Er hat immer Spielzeug, Tisch und Eltern mit ihnen geteilt. Darum ist es für ihn ganz natürlich, die auf der Straße nach Roya herumirrenden Menschen als seine Brüder und Schwestern anzusehen und ihnen zu helfen.«
Im Oktober und Sommer letzten Jahres waren Ermittlungsverfahren gegen Herrou wieder eingestellt und ihm »Handeln aus humanitären Beweggründen« zugute gehalten worden. Seit 2012 ist dies gesetzlich erlaubt. Präsident François Hollande milderte ein Gesetz ab, das von Kritikern »Solidaritätsbestrafung« genannt wird.
Ernsthafte Probleme bekam Herrou dann jedoch durch den Präsidenten des Generalrats des Departements Alpes-Maritimes, Eric Ciotti. Der langjähriger Parlamentsabgeordnete und sicherheitspolitische Sprecher der rechtsbürgerlichen Partei der Republikaner erstattete Anzeige gegen ihn und beschwerte sich in einem Brief an den Justizminister über den »sträflich nachsichtigen« Umgang der Behörden mit Flüchtlingshelfern.
So kam es zum Prozess Anfang Januar. Dabei konzentrieren Cédric Herrou und der Verein Roya Citoyenne ihre Hilfe auf Jugendliche unter 18 Jahren, die gesetzlichen Anspruch auf besonderen Schutz des Staates haben. »Ich riskiere, illegal zu handeln, weil sich Frankreich illegal verhält, wenn es Kinder und Jugendliche nicht aufnimmt und versorgt, sondern abschiebt«, meint Herrou.
Während im Departement 2015 rund 1500 Minderjährige aufgenommen wurden, waren es 2016 nur noch 348. Immer öfter komme es vor, dass auf französischer Seite der Grenze aufgegriffene Kinder und Jugendliche nach Italien zurückgeschickt werden, ohne sie über ihre Rechte aufzuklären und ohne die zuständigen Sozialbehörden zu verständigen. »Das verstößt eindeutig gegen das Gesetz«, sagt Herrou.
In anderen Grenzregionen Frankreichs ist das ganz anders, aber im Departement Alpes-Maritime bestimmt der rechte Scharfmacher Ciotti das Klima. Hier lassen selbst Polizisten schon mal durchblicken, dass sie es kaum noch mit ansehen können, dass oft innerhalb weniger Tage dieselben Kinder fünf- oder sechsmal hintereinander zwischen Frankreich und Italien hin- und hergeschoben werden.
Als eine Mehrheit der Leser der Regionalzeitung »Nice Matin« im Dezember 2016 Cédric Herrou zum »Einwohner des Jahres« für das Departement Alpes-Maritimes wählte, ließ der Generalratspräsident Ciotti wütend am nächsten Tag im selben Blatt einen Beitrag veröffentlichen. In diesem sprach er Cédric Herrou jeden Anspruch auf Anerkennung ab. »Mit seiner angeblichen Nächstenliebe bringt er die Republik in Gefahr und fördert den islamistischen Radikalismus, der unsere Gesellschaft untergräbt und gefährdet«, schrieb der Rechtspolitiker. »Gute Absichten führen nur zu oft zu schlimmen Dramen. Wer kann denn garantieren, dass sich unter den Menschen, denen er die Einreise ermöglicht, nicht künftige Terroristen befinden?«
Herrou, der von den Medien der »Robin Hood der Migranten« genannt wird, sieht das ganz anders. »Mit Stigmatisierung richtet man gegen den Terrorismus nichts aus. Wir hingegen beugen dem Terrorismus vor. Denn ein Kind, das immer wieder wie ein Pingpongball hin- und hergestoßen wird und Angst vor der Polizei hat, wird später empfänglich für die Radikalisierung«, ist er überzeugt.
Herrou hat stapelweise Fotos, Briefe und Postkarten von Migranten, die irgendwann bei ihm gelandet waren und denen er weitergeholfen hat. Von einigen hat er zum Dank auch einen Scheck bekommen, aber er hütet sich, die bei der Bank einzureichen. »Das könnte man als Bezahlung auslegen und mich so als überführter Schlepper vor Gericht bringen«, erklärt er, »aber den Gefallen tue ich ihnen nicht.«
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