Das gute Werk der Sägespäne
Im Heimathafen erzählt Nicole Oder mit »Human Traffic« eine Schleusergeschichte als Live Graphic Novel
Manchmal lernt man sogar noch im Theater etwas über das Leben. Etwa, dass Sägespäne ein elementares Werkzeug für professionelle Fluchthelfer sind. Sie saugen Flecken jeder Art auf, verwischen Spuren und befreien das Lager von den Hinterlassenschaften jener Menschen, die wie ihre Nachfolger zwischen Verzweiflung über ihr aktuelles Dasein und übersteigerter Hoffnung auf ein besseres Leben woanders schwankten.
Der Schauspieler Alexander Ebeert, der an diesem Abend einen Fluchthelfer verkörpert, kauert denn auch schon mit einem ganzen Sack voller Sägespäne auf der Bühne. Er verteilt sie, er putzt damit imaginäre Flecken weg und schrubbt sich auch selbst. Vor allem führt er sein Publikum in die unsere Zeit bestimmende Thematik von Flucht und Vertreibung ein - aus der Perspektive desjenigen, der die Menschenströme steuert, der von ihnen profitiert, sich als ihr Deichwärter fühlt und zuweilen zum allmächtigen Herrscher aufschwingt.
Zunächst nahm der türkische Autor Hakan Günday in seinem als Vorlage dienenden Roman »Flucht« diese gewagte Perspektive ein; jetzt, nur wenige Monate nach Erscheinen der deutschen Übersetzung, folgt ihm das Team vom Heimathafen. Mutig ist diese Blickrichtung, weil aus ihr die Gewissheiten von Gut und Böse verschwimmen. Sind Schleuser hartgesottene Menschenhändler, die ihr zynisches Geschäft mit der Not der anderen betreiben? Sind sie die notwendigen Fachleute und Dienstleister, die jeder braucht, der sich aus dem Elend seiner Heimat - wirtschaftlichem, politischem oder sozialem Elend - befreien will und sich für die dafür wohl besser geeignete Revolution einfach zu schwach fühlt? Sind Schleuser gar Freunde, im Sinne der Fluchthelfer, die anderthalb Generationen zurück noch mit Bundesverdienstkreuzen für die Hilfe bei der Überwindung der deutsch-deutschen Mauer rechnen konnten und die im Kontext der Pyrenäenüberquerungen der frühen 1940er Jahre zuweilen gar mythischen Heldenstatus erlangten? Oder handelt es sich um arme Gestalten, die mangels anderer Jobperspektiven in dieser Branche gelandet sind?
Man befindet sich auf dünnem Eis. Zwar lässt sich schnell, auch gänzlich ohne Wissen, ein moralisches Urteil, ein Vorurteil, fällen. Mit jedem Detail, das zur Kenntnis gelangt, verkompliziert sich aber das moralische Geschäft. Das wird bereits in Ebeerts Eingangssequenz mit den Sägespänen deutlich. Alles, was er in der folgenden guten Stunde über das Schlepper- und Schleuserdasein erzählen wird, ist schon in diesem Reinigungsritual mit Spänen angelegt: die Sorge um die Infrastruktur. Ein gewisses Maß an Vorsicht. Das Wissen, auch die größte Schweinerei, die schlimmste Gräueltat, die mit dem Vergießen von Körperflüssigkeiten verbunden ist, mit Sägespänen kaschieren zu können. Und auch ein gewisses Maß an Fürsorge, winzige Restbestandteile menschlichen Verhaltens schimmern in dem Sägespäne-Akt noch durch. Aber diese Reste sind sehr verkümmert, das muss man auch sagen.
Hakan Günday wählte als Protagonisten ein Kind aus, einen neunjährigen Knaben, der selbst auf dem Friedhof geboren und in zartem Alter von seinem Vater ins Schleppergeschäft eingeführt wurde. Mit all der Grausamkeit, die man von Kindern kennt, die in grausamen Verhältnissen aufwachsen und sie für normal halten - Kindersoldaten sind das eklatanteste Beispiel -, wächst dieser Knabe ins Geschäft. Erfindungsreich sorgt er für Verbesserungen der Infrastruktur: ein Klo im Verschlag, aber auch einen einbetonierten Eisenring für die, die immer »durchdrehen«. Sogar Überwachungskameras installiert er.
Ebeert zeigt diesen Knaben gar als praktischen Sozialwissenschaftler. Er findet heraus, dass sich Gruppen von mehr als 30 Personen leichter manipulieren lassen, wenn man aus ihnen Opfer auswählt, als Gruppen von nur fünf Mann. Fünf Personen solidarisieren sich leichter miteinander als 30. Gruppen mit hohem Frauenanteil ertragen leichter Härten als mehrheitlich männliche Gruppen, lautet eine weitere Erkenntnis.
Vor allem aber findet der Bursche Möglichkeiten, seine Macht auszuspielen, sei es, Sex einzufordern oder Geld einzutreiben. Sogar zu einer Organentnahme stachelt er seine »Klienten« auf. Entsolidarisierung als Herrschaftstechnik in Elendsverhältnissen wird deutlich. Der Sadismus des jugendlichen Antihelden erinnert aber auch an manche KZ-»Forschungspraxis« von Männern wie Mengele; nur hatten die ihre Opfer länger zur Verfügung, während die maximale Verweildauer der Flüchtlinge zwei Wochen beträgt.
Ertragen lässt sich dieser Ausflug in die Abgründe des Menschseins nur wegen des so genauen wie sparsamen Spiels Ebeerts und der poetischen Distanzierung, die die Livezeichnungen Bente Theuvsens erzeugen. Im Moment des Malens werden sie an die Bühnenrückwand geworfen. Theuvsens schwarzer Pinsel erfasst zuweilen sogar die Gestalt Ebeerts und macht sie zu einer comicartigen Silhouette. Der Spieler geht, die Kontur bleibt, und damit das ganze darin kondensierte Gemisch aus Elend, Verrohung und purer sadistischer Macht. Eine starke Inszenierung zu einem harten Thema.
Nächste Vorstellungen: 25., 26.2.
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