Den Himmel zum Einsturz gebracht

«Erlöste und Verdammte» - eine Geschichte der Reformation von Thomas Kaufmann

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Wittenberg, ›am Rande der Zivilisation‹. Von diesem traditionslosen Universitätsstädtchen ausgehend, wurde die Reformation binnen kürzester Zeit zu einem europäischen Ereignis.« Mit diesem so einfachen wie unanfechtbaren Satz leitet Thomas Kaufmann seine Darstellung der Geschichte der Reformation ein, die »ohne die Person Martin Luthers ... nicht erzählt werden«. Dies gilt, so Thomas Kaufmann, nicht nur wegen des von ihm ausgehenden Ablassstreites, sondern »auch in Hinsicht auf wegweisende Entwicklungen in der Folgezeit, bei denen die Art und Weise, wie Luther die ihm möglichen Handlungsspielräume nutzte, die weitere Geschichte tiefgreifend prägte«. Das bedeutet aber keine Heroisierung.

Das Buch ist ein Glücksfall für alle, Historiker, Religionsgeschichtler wie für Laien, nicht zuletzt auch für die Wertung eines weltweit beachteten, bzw. zu feiernden Jubiläums, erfordert allerdings die Bereitschaft genauen Hinschauens bzw. Lesens, denn es ist kompakt mit Fakten und Daten unterfüttert. Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, ist ein hervorragender Kenner der Reformation (»Martin Luther«, »Luthers Juden« u.a.). Ohne sich in Details zu verlieren, enthält seine Darstellung viele wichtige und interessante Informationen (nehmen wir als Beispiel die osteuropäische Reformationsgeschichte, die so genau Vielen bisher nicht bekannt sein dürfte). Dazu kommen die passenden, geschickt ausgewählten Illustrationen. Diese Abbildungen unterstreichen zugleich die vom Autor immer wieder betonte Bedeutung des Buchdrucks für den Siegeszug der reformatorischen Lehren. »Luther schrieb um sein Leben und rettete sich durch sein Schreiben - ohne Erfindung Gutenbergs wäre Luther nicht möglich gewesen, ohne Luthers Sprachkraft aber wären die geschichtsverändernden Potenziale, die der Erfindung des Mainzer Meisters innewohnten, bis auf Weiteres ungedruckt geblieben.«

Die schnelle Verbreitung von Luthers Schriften, von Bibeldrucken und Flugschriften, alles in hohen Auflagen, bestimmte hauptsächlich die folgenden Jahrhunderte bis in ferne Länder. Kaufmanns »multiperspektivische« Reformationsgeschichte setzt mit der »Konstruktion« des von Aufbrüchen und politischen Auseinandersetzungen geprägten, durch die Türken bedrohten europäischen Kontinents zur Zeit von Kaiser Karl V. ein. Luthers »Porträt« zeichnet den frühen »bahnbrechenden Exegeten und revolutionären Kirchenreformer«, der im Alter »zum Haudegen und Denkmal seiner selbst wird.«

Der erste Teil des Buches widmet sich den wichtigen frühreformatorischen Ereignissen seit dem Thesenanschlag. Das Buch bildet den ältesten erhaltenen Druck der 95 Thesen einer Leipziger Druckerei ab. Es folgen die weiteren wichtigen Ereignisse, Bruch mit dem Papst, Reichstag zu Worms mit der folgenschweren Entscheidung Luthers, seine Schriften nicht zu widerrufen - womit Luther, wie er selbst später einmal formulierte, »den Himmel zum Einsturz« brachte. Erwähnt seien hier nur stichwortartig Themen wie Luthers Verhältnis zu den Humanisten, bzw. deren Verhältnis zu Luther, seine unmäßigen verbalen Ausfälle gegen Müntzer und gegen die Juden. Von den frühen Auseinandersetzungen und Veränderungen zieht der Autor Linien zu Reformierten, Schwärmern und Täufern innerhalb und außerhalb des Reiches, nach Frankreich, England, in die Schweiz (Calvin), in die Niederlande und Nord- und Osteuropa, schließlich über den Kontinent hinaus in die Neue Welt. Keine Reformationsbewegung, so Kaufmann, ist ohne Luther denkbar. Ausgesprochen spannend und lehrreich sind die Kapitel zu Aufklärung, Pietismus und Romantik, schließlich über die Instrumentalisierung Luthers durch den Nationalismus des 19. und 20. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus. Kaufmann geht am Ende auch auf die unterschiedlichen Deutungsmuster in beiden deutschen Staaten nach 1945 ein.

Es sei noch etwas zum zunächst befremdendemotionalen Buchtitel gesagt, der aber »ins Herz« der Reformation trifft. Die Menschen lebten um 1500 mit apokalyptischen Endzeitvorstellungen (man denke an Dürers. »Apokalyptische Reiter« oder Müntzers Endzeitvisionen). Die Frage nach Verdammung oder Erlösung war eine elementare. Angst trieb die Menschen um, so auch Luther. Nach der Spaltung in verschiedene Lager wurden die jeweils anderen zu Verdammten, was sich über die Jahrhunderte hinweg in Hass, Verteufelung und Kriegen fortsetzte. »Wie es scheint«, so Thomas Kaufmann, »ist die Religion als unableitbares und zentral wichtiges eigenständiges Moment in, mit und unter vielfältigen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Wirkfaktoren ... auch in die Reformationshistoriographie zurückgekehrt.« Der Konjunktiv gibt Raum für eigene Bewertungen.

Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation. C. H. Beck. 512 S., geb., 26,95 €.

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