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Algorithmen, die wir brauchen

Neue technopolitische Bedingungen der Kooperation und des Kollektiven

  • Felix Stalder
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Bedeutung von »Algorithmen« in unserer Gesellschaft wächst rasant. Unter Algorithmen verstehe ich aber nicht nur Computercodes, sondern soziotechnische Systeme und institutionelle Prozesse, in denen mehr oder weniger lange Abschnitte der Entscheidungsketten automatisiert sind.

Die Erweiterung der Einsatzgebiete von algorithmischen Systemen ist kein Zufall und auch kein Prozess, den man »aufhalten« kann oder sollte. Vielmehr ist es notwendig, eine differenzierte Kritik zu entwickeln, damit wir uns darüber verständigen können, welche Algorithmen wir brauchen und welche wir nicht wollen. Dies ist ein Vorschlag, wie eine solche Kritik aussehen könnte.

Die Debatte


Anfang des Monats plädierte der Publizist Steven Hill in der »Zeit« dafür, Technologien zu verbieten, sofern sie Arbeitsplätze zerstören. Es gebe heute Unternehmer, die sich damit brüsteten, Menschen durch Algorithmen zu ersetzen. »Die Geschichte zeigt, dass die Allgemeinheit keineswegs stets von technologischen Innovationen profitiert«, so der Autor von »Die Start-up-Illusion: Wie die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert«. Lorena Jaume-Palasí, Lorenz Matzat, Matthias Spielkamp und Katharina Anna Zweig, Gründer der NGO AlgorithmWatch, haben in ihrer Replik auf Hills Text unter anderem darauf verwiesen, dass neue Technologien im Gegenteil »mehr Fairness und Gerechtigkeit möglich« machen könnten – es komme allerdings darauf an, wer sie in welchem Interesse einsetzt. Auch die Frage, »wer etwa von automatisierten Entscheidungssystemen profitieren kann und darf«, müsse dafür aber »als eine Frage der gerechten Verteilung von Ressourcen« debattiert werden.

An dieser Stelle dokumentieren wir in gekürzter Fassung einen Beitrag von Felix Stalder. Er ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung in Zürich, Vorstandsmitglied des World Information Institute in Wien. Er forscht unter anderem zu Netzkultur, Urheberrecht, Commons, Privatsphäre, Kontrollgesellschaft und Subjektivität. 2016 erschien von ihm: »Kultur der Digitalität« bei Suhrkamp.
Die Langfassung seines hier redaktionell gekürzt erscheinenden Beitrags findet sich unter: dasND.de/Stalder

Beginnen wir mit drei Annahmen. Erstens: Wir brauchen Algorithmen als Teil einer Infrastruktur, die es erlaubt, soziale Komplexität und Dynamik so zu gestalten, dass diese unseren realen Herausforderungen gerecht werden.

Zweitens: Viele Algorithmen sind handwerklich schlecht gemacht, vor allem jene, die soziales Alltagshandeln formen, also das tun, was Soziologen »soziales Sortieren« (David Lyon) oder »automatische Diskriminierung« (Oscar H. Gandy) nennen.

Drittens: Diese handwerklichen Defizite sind nur ein Teil des Problems. Der andere Teil ergibt sich aus Problemen der politischen Programmatik, die vielen Algorithmen zugrunde liegt. Sie machen deutlich, dass es keine autonome Technologie gibt, auch wenn sie als »intelligent« oder »selbstlernend« bezeichnet wird. Gerade angewandte Technologien sind immer Teil von unternehmerischen oder administrativen Strategien, deren Reichweite und Effektivität sie verbessern sollen.

Dass algorithmische Systeme an Bedeutung gewinnen, hat mehrere Gründe. Die Menge und die Qualität des Dateninputs sind in den letzten Jahren enorm gestiegen und werden aller Voraussicht nach in den nächsten Jahren weiter steigen. Immer mehr Tätigkeiten und Zustände - online wie offline - hinterlassen immer detailliertere Datenspuren.

Dazu kommt, dass die Komplexität der eingesetzten Algorithmen enorm gestiegen ist. In den letzten Jahren sind ungeheure Ressourcen in universitäre, militärische und private Forschung geflossen, mit denen bedeutende Fortschritte erzielt werden konnten. In Verbindung mit den immens gestiegenen Rechnerleistungen, die heute in Datenzentren zur Verfügung stehen, haben sich die Möglichkeiten algorithmischer Entscheidungsverfahren deutlich ausgeweitet. Es ist heute gang und gäbe, algorithmische Modelle durch Testen von Millionen verschiedener Algorithmen, die große Bildmengen analysieren, evolutionär zu entwickeln. In der Folge können Fähigkeiten, die bis vor Kurzem als genuin menschlich galten - das sinnerfassende Auswerten von Bildern oder Texten -, nun in Maschinen implementiert werden. Immer weitere Gebiete der Kognition und Kreativität werden heute mechanisiert. Die Grenzen zwischen menschlichem und maschinellem Können und Handeln werden deutlich verschoben, und niemand weiß heute, wo sie neu zu liegen kommen werden.

Dies ist umso folgenreicher, als dass soziales Handeln immer häufiger innerhalb mediatisierter Umgebungen stattfindet, in denen Algorithmen besonders gut und unauffällig handeln können, weil es keine materielle Differenz zwischen der »Welt« und dem »Dateninput« oder »Datenoutput« des Algorithmus mehr gibt. Online ist alles Code, alles Daten, alles generiert.

Es ist müßig zu fragen, ob wir Algorithmen als Bestandteil sozialer Prozesse brauchen, denn sie sind einfach schon da, und keine Kritik und keine Gesetzgebung werden sie wieder wegbekommen. Das wäre in dieser Pauschalität auch nicht wünschenswert. Denn wir brauchen durch neue technische Verfahren erweiterte individuelle und soziale Kognition, um uns in extrem datenreichen Umgebungen bewegen zu können, ohne an den Datenmengen zu erblinden.

Ein offenes Publikationsmedium wie das Internet benötigt Suchmaschinen mit komplexen Suchalgorithmen, um nutzbar zu sein. Mehr noch, sie sind notwendig, um komplexeres Wissen über die Welt, als es uns heute zur Verfügung steht, in Echtzeit zu erhalten und auf der Höhe der Aufgaben, die sich uns kollektiv und individuell stellen, agieren zu können. Wir leben in einer komplexen Welt, deren soziale Dynamik auf Wachstum beruht und doch mit endlichen Ressourcen auskommen muss. Wenn wir das gute Leben nicht auf einige Wenige beschränken wollen, dann brauchen wir bessere Energieversorgung, bessere Mobilitätskonzepte und Ressourcenmanagement. Das kann nur auf Basis »smarter« Infrastrukturen gelingen. Wenn wir etwa die Energieversorgung auf dezentrale, nachhaltige Energiegewinnung umstellen wollen, dann brauchen wir dazu intelligente, selbst steuernde Netze, die komplexe Fluktuationen von Herstellung und Verbrauch bewältigen können.

Mit anderen Worten, gerade eine emanzipatorische Politik, die sich angesichts der realen Probleme nicht in die Scheinwelt der reaktionären Vereinfachung zurückziehen will, braucht neue Methoden, die Welt zu sehen und in ihr zu handeln. Und Algorithmen werden ein Teil dieser neuen Methoden sein. Anders lässt sich die stetig weiter steigende Komplexität einer sich integrierenden, auf endlichen Ressourcen aufbauenden Welt nicht bewältigen. Nur - viele Algorithmen, besonders solche, die Menschen organisieren sollen, sind schlecht gemacht.

Ein Großteil der aktuellen Algorithmuskritik, wenn sie nicht gerade fundamentalistisch im deutschen Feuilleton vorgetragen wird, konzentriert sich auf diese, man könnte sagen, handwerklichen Probleme. Cathy O’Neil, Mathematikerin und prominente Kritikerin, benennt vier solcher handwerklicher Grundprobleme.

Überbewertung von Zahlen: Mit Big Data und den dazugehörigen Algorithmen erleben wir eine verstärkte Rückkehr der Mathematik und naturwissenschaftlicher Methoden in die Organisation des Sozialen. Damit einher geht eine Fokussierung auf Zahlen, die als objektiv, eindeutig und interpretationsfrei angesehen werden.

Falsche Proxies: Das Problem der Überbewertung von Zahlen wird dadurch verschärft, dass gerade soziale Prozesse sich nicht einfach in Zahlen ausdrücken lassen. Je komplexer die sozialen Situationen sind, die algorithmisch erfasst und bewertet werden sollen, desto stärker kommen Proxies zum Einsatz (also repräsentative »Stellvertreter«-Zahlen), schon weil sonst die Modelle zu kompliziert und die Datenerhebung zu aufwendig würden. Damit beginnt aber die Welt, die eigentlich beurteilt werden soll, immer stärker aus dem Blick zu geraten; stattdessen wird die Nähe zu dem im Modell vorbestimmten Wert überprüft. Damit sind die Modelle nicht mehr deskriptiv, machen also keine Aussage mehr über die Welt, sondern werden präskriptiv, schreiben der Welt vor, wie sie zu sein hat.

Menschen passen ihr Verhalten an: Das Wissen um die Wirkmächtigkeit der quantitativen Modelle hat zur Folge, dass Menschen ihr Verhalten den Erwartungen des Modells anpassen und sich darauf konzentrieren, die richtigen Zahlen abzuliefern. Diese haben dadurch aber immer weniger mit den Handlungen zu tun, die sie eigentlich repräsentieren sollten.

Fehlende Transparenz und Korrigierbarkeit: Eine der häufigsten Reaktionen darauf, dass Menschen ihr Verhalten den quantifizierten Beurteilungsmustern anpassen, ist, dass diese Muster geheim gehalten werden: Die Menschen werden also im Unklaren darüber gelassen, ob und wie sie beurteilt werden, damit sich die »Ehrlichkeit« ihres Verhaltens erhöht und die numerische Klassifikation ihre Aussagekraft behält. Damit wird aber das Gefälle zwischen der durch Algorithmen erweiterten institutionellen Handlungsfähigkeit und dem Einzelnen, der dadurch organisiert werden soll, nur noch größer. Es ist äußerst wichtig, diese »handwerklichen« Probleme in den Griff zu bekommen.

Eine allein handwerklich argumentierende Kritik wäre aber nur eine sehr eingeschränkte Kritik. Es reicht nicht, die Qualität der Werkzeuge zu verbessern, denn Werkzeuge sind nie neutral, sondern reflektieren die Werthaltungen ihrer EntwicklerInnen und AnwenderInnen beziehungsweise deren Auftraggeber oder Forschungsförderer. Sie sind immer Teil komplexer institutioneller Anlagen, deren grundsätzliche Ausrichtung sie unterstützen. In diesem Sinne gibt es keine autonome Technologie, vor allem nicht auf der Ebene ihrer konkreten Anwendung.

Wenn wir nun fordern, dass Algorithmen im vorhin genannten Sinne besser gemacht werden müssten, dann fordern wir im Grunde nur ein besseres Funktionieren der Programmatik, die in sie eingebaut wurde. Aber diese Programmatik ist keine harmlose Effizienz, sondern die Definition der Probleme und der möglichen Lösungen, und sie entspricht fast immer einer neoliberalen Weltsicht.

Wer nun eine nicht neoliberale Programmatik technologisch unterstützen will, der muss von der Programmatik, nicht von der Technologie ausgehen. Ein wesentliches, durch die algorithmischen Systeme verstärktes Element der neoliberalen Programmatik ist es, wie erwähnt, individuelles Handeln zu privilegieren und Konkurrenz als zentralen Faktor der Motivation zu betonen. Eine alternative Programmatik müsste dagegen darauf ausgerichtet sein, neue Felder der Kooperation und des kollektiven Handelns zu erschließen.

Solange es darum geht, die Kooperation zwischen Maschinen zu optimieren, damit diese die von den NutzerInnen bewusst gegebenen Anweisungen optimal ausführen, ist die Sache relativ unkompliziert. Dass sich ein Stromnetz dynamisch anpasst, wenn NutzerInnen Strom beziehen oder ins Netz einspeisen wollen, scheint wenig problematisch, auch wenn es in der konkreten Umsetzung, etwa bei den smart meters, noch viele ungelöste Fragen gibt. Ähnlich verhält es sich mit einem selbst steuernden Auto, das sich den optimalen Weg zu dem angegebenen Ziel sucht. Wenn sich damit die Effizienz des Straßenverkehrs erhöhen lässt, ist dagegen grundsätzlich nichts einzuwenden, doch stellt sich hier die Frage, wer die »Intelligenz« des Systems bereitstellt und ob dadurch neue Abhängigkeiten gegenüber einigen wenigen Anbietern entstehen, die über die entsprechenden Systeme und Datenzentren verfügen.

Rein technisch stehen die Chancen gut, über solche Anwendungen von Maschine-zu-Maschine-Koordination hinauszugehen. Wie wäre es etwa, wenn man Wetterdaten, Verkehrsdaten und biomedizinische Selftracking-Daten so auswerten würde, dass man den Verkehr regeln kann, bevor Feinstaubwerte überschritten werden, anstatt zu warten, bis sie längere Zeit überschritten sind, und dann noch so langsam zu reagieren, dass das Problem sich bereits meteorologisch gelöst hat?

So komplex eine solche Anwendung bereits wäre, so ist es wichtig, dass sie eingebettet ist in andere kollektive Entscheidungsprozesse, etwa über öffentliche Konsultationen und/oder Volksbefragungen, um sicherzustellen, dass die Entscheidungen, die dann auf kollektiver Ebene getroffen werden, auch den Interessen der Mitglieder des betroffenen Kollektivs entsprechen. Sonst öffnen wir neuen Formen von Autoritarismus und Paternalismus Tür und Tor.

Viele weitere Anwendungen ließen sich ausmalen. Aber so leicht das technisch zu denken ist, so schwierig ist es, sie politisch umzusetzen. Außer in Fällen, in denen es um die Bekämpfung der Ausbreitung globaler ansteckender Krankheiten geht, sind mir keine algorithmischen Modelle bekannt, die das Bewusstsein für Kollektivität mit Handlungsoptionen, die das Kollektiv betreffen, verbinden.

Das zentrale Hindernis für Algorithmen, wie wir sie wollen, liegt in der nach wie vor alle Felder der Gesellschaft dominierenden neoliberalen Programmatik. Die ist aber, nach Brexit und Trump, schwer angeschlagen. Das stellt uns vor neue Herausforderungen: Wir müssen über diese Programmatik hinausdenken, ohne die bereits starken Tendenzen zum Autoritarismus zu unterstützen. Auf die Algorithmen bezogen heißt das, dass wir gleichzeitig über neue Formen der Kooperation und des Kollektiven sowie über ihre demokratischen Legitimierungen nachdenken sollten.

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