Verstörende Blicke in die nahe Zukunft

Philipp Schönthaler ermutigt seine Leser dazu, beim Nachdenken über die Digitalisierung ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer hat Zugriff auf unsere Daten? Verändert die Digitalisierung unser Sozialverhalten, unsere Kultur? Und wie werden wir in einer noch weiter digitalisierten Zukunft leben? Faszinierende Antworten auf diese Fragen gibt der 1976 in Stuttgart geborene Schriftsteller Philipp Schönthaler in seinem Erzählband »Vor Anbruch der Morgenröte«. In sieben Texten stellt er unterschiedliche Aspekte der Digitalisierung vor und wagt auch schon einmal einen Blick in die Zukunft. Und er zeigt, dass die technologischen Möglichkeiten schon heute der Science-Fiction ziemlich nahe sind.

Philipp Schönthaler: Vor Anbruch der Morgenröte. Erzählungen.
Matthes & Seitz, 220 S., geb., 20 €

Der erste komplett digital vermessene Mensch war der Texaner Joseph Paul Jernigan: Nach seiner Hinrichtung Anfang der 1990er wurde der Körper des 39-Jährigen für das »Visible Human Project« seziert und tausendfach fotografiert. Im ersten Text des Bandes erzählt Philipp Schönthaler in einer eigenwilligen Mischung aus Sozial- und Wissenschaftsreportage von diesem Fall. Mit distanzierter Sprache fängt er diesen damals aus wissenschaftlicher Sicht revolutionären Vorgang auf verstörend konzise Weise ein. Jernigan wurde in 1878 Querschnitte zerteilt, die einen Blick in jeden Winkel seines Körpers bieten: ein digitalisierter Atlas des menschlichen Körpers.

Schönthaler zieht aber auch noch ganz andere erzählerische Register. Da geht es in einem Text um die Münchner BMW-Welt, mithin um die Frage, wie öffentliche urbane Räume von Konzernen in privatwirtschaftliche Zonen verwandelt werden und welche Rolle digitale Daten dabei spielen. Schlicht genial ist ein fiktiver Text über einen gigantischen Wohnblock in New York, die »Orchid Yards«. In diesem bis ins Detail durchorganisierten Wohnblock geben die Bewohner freiwillig alle Daten an die übergeordnete private Verwaltung, die vom Menschenstrom in der Einkaufsmall bis zum Sozialverhalten der Nachbarschaft alles überwacht. Kontrastiert wird diese schöne neue Welt mit einer militanten linken Demonstration, die schließlich in den Gebäudekomplex vordringt und einiges durcheinanderbringt. Immer wieder zeigt Schönthaler in seinen Texten Grenzen und Sinnfälligkeit der Digitalisierung auf.

Skurril ist ein Text, der aus der langen E-Mail eines tief besorgten Kunden an die Herstellerfirma seiner Mikrowelle besteht. In dieser futuristischen Geschichte erzeugt nämlich die Benutzung der Mikrowelle zum Auftauen eines Donuts plötzlich nicht mehr diese bestimmte Art von Werbung, die der Kunde bislang immer auf seinem heimischen Bildschirm zu sehen bekam. Stimmt etwas mit den Geräten nicht mehr? Wurde er vom Rest der Welt abgekoppelt? Und wenn ja, warum? Die Erzählung zeigt, wie Konsumverhalten Menschen in eine Struktur einbettet, in der sie sich sicher aufgehoben fühlen.

Um Konsumparameter geht es auch in einer Geschichte über einen Blogger, dessen ganzer Horizont aus jener Warenwelt besteht, die mit der Erziehung seines Kindes und der Familie zu tun hat und über die er im Internet schreibt.

Philipp Schönthaler arbeitet sich in seinem Erzählband flott durch verschiedene Aspekte einer digitalisierten, konsumorientierten Welt und entwirft sehr geschickt einige mögliche Zukunftsstränge. Trotz des kühlen Tonfalls entbehren seine Geschichten nicht einer gewissen Ironie und inspirieren den Leser dazu, beim Nachdenken über Digitalisierung und Zukunft einfach mal der Phantasie freien Lauf zu lassen.

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