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Die Autorin als Allmächtige
Monika Helfer will sich mit Hoffnungslosigkeit nicht abfinden und hat offensichtliches Vergnügen am Fabulieren
»Die Welt der Unordnung« hieß Monika Helfers kleiner Roman von 2015. Eine Welt war gemeint, die viele übersehen, gar nicht wahrhaben wollen: die Realität der Verarmten, Ausgegrenzten. Die österreichische Autorin will, dass wir hinschauen. Wenigstens das, auch wenn man sich dabei oft hilflos fühlt. Denn es gibt eine Not, die umso schwerer zu lindern ist, weil sich darin Soziales mit Persönlichem verfilzt. Wer an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde, verweigert irgendwann die Anpassung an eine gesellschaftliche Norm. Und die auf der Sonnenseite verurteilen ihn dafür.
Monika Helfer: Schau mich an, wenn ich mit dir rede!
Roman. Jung und Jung. 186 S., geb., 20 €.
Mit einer Szene in der U-Bahn beginnt Monika Helfers neues Buch »Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«. Eine blonde Frau und ein etwa zehn- oder elfjähriges Mädchen: »Wie ist es so mit dem Papa? Mag er dich noch? … Jetzt, wo du noch zwei Halbschwestern hast, giltst du bestimmt gar nichts mehr.«
Es schmerzt, wie die Mutter das Kind bedrängt. Wir verstehen: Sie fügt der Tochter Schmerzen zu, weil sie selber welche hat. »Die Frau trinkt oder ist depressiv oder beides, und weil sie trinkt und depressiv ist, hat sie der Mann nicht mehr ausgehalten, hat sich eine neue Familie gesucht und die Tochter mitgenommen. Jetzt lebt sie allein.« Das denken wahrscheinlich auch die anderen Fahrgäste im Waggon, aber die Ich-Erzählerin will es dabei nicht belassen, ruft ihre Phantasie zu Hilfe.
Wenn es eine Szene aus einem Film wäre, welche Schauspielerin könnte die Rolle der blonden Frau mit den ungewaschenen Haaren übernehmen? So überlegt die Autorin und gibt der Frau einen Namen: Sonja. Was könnte geschehen, um ihr Glück zu schenken? Auch dem kleinen Mädchen Vev soll es gutgehen. Aber was machen wir dann mit Sonjas einstigem Mann Milan und mit seiner neuen Frau Nat? Auch die sind nicht so, wie sie uns aus der Ferne vielleicht erscheinen mochten.
Die Autorin als Allmächtige: Sie bringt uns tatsächlich in einen Film, der beansprucht, Wirklichkeit zu sein. Ganz genau beobachtet sie die handelnden Gestalten, versetzt sich in sie hinein, so dass wir womöglich manches von uns selber wiedererkennen. Dabei wissen wir um die lenkende Hand im Hintergrund. Dass Sonja in »The Dude« einen Mann trifft, der sie versteht und dabei auch noch reich ist, der in der Liebe zu ihr in sich eine allmächtige Güte entdeckt, es ist ein fast unglaublicher Zufall. Aber was zwingt uns denn, alles für so feststehend zu halten, dass wir dabei selber ganz verbiestert und unbeweglich werden?
So lange wir am Leben sind, kann es überraschende Wendungen geben - im Großen wie im Kleinen, im Guten wie im Bösen. Das ist es, was man beim Lesen dieses Buches in aller Deutlichkeit spürt. Das offensichtlich Ausgedachte der bewegten Handlung wird von der Autorin durch einen leicht ironischen Erzählton abgefedert. Ihr Vergnügen beim Fabulieren soll sich auf uns übertragen. Hoffnungslose Zustände - wir werden von Monika Helfer doch nicht darüber hinweggetäuscht, wenn sie uns für Momente eine kraftspendende Medizin verabreicht. Es bleibt nicht, wie es ist. Sag nicht, es ist zu Ende, bevor es zu Ende ist. Ja, die Lektüre tut gut.
»Es geschah etwas Verrücktes«, heißt es an einer Stelle. Die Autorin ist alt genug, um das zu schätzen. »Das Leben ist ein Schundroman.« So ist die 23. der 35 kurzen Szenen überschrieben. Ist es so? Je nachdem, wie man es sieht. Nati, der freundlichen Stiefmutter des kleinen Mädchens Vev, ist es bewusst, dass sie in der Wirklichkeit und zugleich in ihren Vorstellungen lebt. Schon als Kind hatte sie sich einen Film für sich ausgedacht: »Nati und die Welt«. Und manchmal richtete sich die Realität sogar danach.
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