Artenschutz für Dialekte
Immer weniger Menschen sprechen noch Mundart
Als ich vor nunmehr einem halben Jahrhundert in Südthüringen zur Schule ging, redeten alle in meiner Klasse wie selbstverständlich im ortstypischen mainfränkischen Dialekt. Und zwar so ausgeprägt, dass das Erlernen des Hochdeutschen für die meisten ein hartes Stück Arbeit war. Heute treffe ich in meiner alten Heimat kaum noch auf Dialekt sprechende Kinder. Allein die Älteren pflegen eine Mundart, die schon in einigen Generationen weitgehend der Vergangenheit angehören könnte.
Auch in anderen Regionen Deutschlands sind die Dialekte auf dem Rückzug, wobei sich ein deutliches Nord-Süd-Gefälle abzeichnet. Am stärksten verwurzelt ist der Dialekt in Bayern. Er gilt hier gewissermaßen als Kulturgut. Selbst junge Leute finden nichts dabei, sich außerhalb der Weißwurstgrenzen sprachlich als Bayern zu outen. Man denke etwa an die aus Garmisch-Partenkirchen stammende Biathletin Laura Dahlmeier, die auf die Frage eines Reporters, warum sie so überlegen gewonnen habe, antwortete: »Wenn’s laaft, dann laaft’s.«
Laut einer Umfrage sprechen in Ostdeutschland heute nur noch 33 Prozent der Menschen regelmäßig Dialekt, im Westen sind es 24 Prozent. Ein Aussterben der Dialekte ist nach Meinung von Sprachforschern dennoch nicht zu befürchten, zumal viele Mundarten in sogenannte Regiolekte einfließen. Das sind regional gefärbte Umgangssprachen, deren Struktur und Grammatik großenteils dem Hochdeutschen entlehnt sind. Beispiele hierfür wären Berlinerisch, Obersächsisch, Pfälzisch, Ruhrdeutsch. Regiolekte haben einen größeren Kommunikationsradius als die ursprünglichen Dialekte und werden auch außerhalb ihres Verbreitungsgebietes verstanden.
In Deutschland gibt es nach wie vor viele Menschen, vor allem in den Städten, die über jeglichen Dialekt die Nase rümpfen. In ihren Augen verbürgt nur die Standardsprache Stil und Bildung. Wer Dialekt spricht, muss daher gewärtigen, dass man ihn für ungebildet oder zurückgeblieben hält. Selbst in Stellenanzeigen wird inzwischen unverhüllt nach Bewerbern gesucht, die dialektfreies Deutsch sprechen.
Dabei heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes: »Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft … benachteiligt oder bevorzugt werden.« Sobald heute jemand andere aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung diskriminiere, rege sich zu Recht Widerstand, meint der Augsburger Germanist Peter Maitz. »Die Benachteiligung durch die Sprache wird dagegen nicht beachtet.« Das öffentliche Bewusstsein für diese Form der Diskriminierung fehle bis heute. Ein Beispiel: An der Universität Augsburg erhielt eine Studentin der Erziehungswissenschaften in der mündlichen Abschlussprüfung statt der erhofften Note 1 die Note 2. Sie habe »zu sehr geschwäbelt«, begründete der Prüfer seine Entscheidung.
Immer mehr Eltern vermeiden es heute aus Prestigegründen, ihren Kindern Dialekt beizubringen. Auch in Kindergärten wird fast nur noch Hochdeutsch gesprochen. Wissenschaftler verfolgen diese Entwicklung mit Skepsis. »Wenn ein Kind gleichzeitig mit Dialekt und Standardsprache aufwächst, gilt das für die Hirnforschung als eine Variante der Mehrsprachigkeit«, sagt der britische Linguist Anthony Rowley. Studien legen überdies nahe, dass Kinder, die Dialekt und Hochdeutsch lernen, sich später leichter mit dem Erwerb einer Fremdsprache tun.
Im Grunde braucht sich niemand für seinen Dialekt zu schämen. Auch große Leute taten dies nicht. Richard Wagner zum Beispiel sächselte. Friedrich Schiller sprach ein breites Schwäbisch und der in Frankfurt am Main geborene Goethe konnte schon mal auf gut Hessisch fragen: »Wie maanese dess?« Ihre Werke hingegen verfassten Goethe und Schiller auf Hochdeutsch, einer Sprache, die in Deutschland erst mit dem Aufkommen des Radios verbreitet Eingang in die Wohnstuben fand. Später verstärkten das Fernsehen und andere akustische Medien diesen Prozess. »Es erscheint logisch, dass eine Sprachform, die uns in einheitlicher Form berieselt, Rückwirkungen auf das hat, was man als vorbildlich ansieht«, sagt Stefan Kleiner vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.
Aber auch die gewachsene Mobilität der Menschen hat wesentlich zum Rückgang der Dialekte beigetragen. Denn diese werden häufig nur innerhalb eines engen Verbreitungsgebietes verstanden. »Dat möht wie don«, spricht der Kölner, und der Berliner ist ratlos, was man ihm damit sagen möchte, nämlich: »Das muss weh tun«. Um sich verständigen zu können, sind Menschen aus verschiedenen Dialektregionen gezwungen, sich der Standardsprache zu bedienen. Große Veränderungen hat auch die Migration gebracht. Oft vermischt sich die Sprache der Einwanderer mit jener der Einheimischen zu einem neuen Dialekt. Auf diese Weise ist das Kiezdeutsche entstanden, das auf komplizierte grammatische Strukturen zugunsten einer besseren Verständigung verzichtet. Präpositionen oder Artikel fehlen ebenfalls häufig. »Gib zwei Euro. Ich muss Guthaben kaufen«, heißt es in dem Film »Fack ju Göthe«. Treffen zwei Sprachgruppen aufeinander, kommt es neben einer Vereinfachung der Sprache meist auch zu neuen Wortschöpfungen. Beispiele aus dem Kiezdeutschen wären »chillen« (sich abregen), »Babo« (Chef, Meister) und »Digger« (Freund, Kumpel).
In der Regel lassen sich Sprachgewohnheiten nicht verordnen. Nur wenn Menschen selbst das Bedürfnis verspüren, ihre regionalen Sprachtraditionen zu pflegen, können diese erhalten werden. Das hat man mittlerweile auch im Norden Deutschlands erkannt, wo der Anteil der Menschen, die Plattdeutsch sprechen, in den letzten Jahrzehnten von 35 auf 13 Prozent zurückgegangen ist. Um dem entgegenzuwirken, wurde Plattdeutsch 2011 in Hamburg sogar als Wahlpflichtfach an Grundschulen eingeführt. Andere norddeutsche Bundesländer sind dem Beispiel gefolgt.
Traditionell dialektbewusst gibt man sich auch in Köln, wo jedes Jahr Hunderte Frauen und Männer einen Kölschsprachkurs besuchen. Hier lernen Zugezogene und Einheimische die Aussprache und Grammatik des Kölner Dialekts und werden nach bestandener Prüfung mit dem »Kölschabitur« prämiert. Für Sprachforscher kommen solche Entwicklungen nicht überraschend. Angesichts der fortschreitenden Globalisierung suchen Menschen nach kultureller Identität, die nicht nationalistisch gefärbt ist.
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