Was das Kapital kostet
Nichts als raschen Absatz: Wie aus drei Talern anderthalb Millionen Euro wurden. Eine kurze Geschichte über den Preis eines Buches. Von Tom Strohschneider
Wen die Frage interessiert, wie teuer das Kapital ist, wird Antworten von Karl Marx vor allem in dessen drittem Band seines Hauptwerkes finden. Dass auch »Das Kapital« einen Preis hat, vor allem dessen Erstausgabe von 1867, ist eine andere, aber nicht gänzlich davon zu trennende Geschichte.
Seit einiger Zeit ist nämlich der Markt für Erstausgaben in Bewegung gekommen. Die Preise explodieren förmlich, vor allem bei Exemplaren, die Widmungen von Marx an seine Weggefährten tragen. Oder solchen Einzelstücken, die als »aufgewertet durch eigenhändige Korrekturen des Verfassers« gelten. Hierzu zählt zum Beispiel das im Sommer 2011 verkaufte französische Handexemplar von Marx - es wurde vor einer Versteigerung der Bibliothek des Judaisten und Sozialismusforschers Chimen Abramsky zunächst mit 12 000 Euro bewertet und erzielte dann 40 000 Euro.
Noch deutlicher sind in den letzten Jahren die Preise für gewidmete Ausgaben in die Höhe geschnellt. Im Juni 2016 wurde in London eine Erstausgabe des ersten Bandes von 1867 mit einer Widmung an Johann Georg Eccarius mit einem Schätzpreis von 80 000 bis 120 000 Pfund ins Auktionsrennen geschickt. Der Zuschlag ging an einen »europäischen Sammler«, wie es beim Versteigerer Bonhams heißt - für 218 500 Pfund, das entspricht fast 250 000 Euro.
Der Buchexperte Simon Roberts erklärte den Preissprung gegenüber einer britischen Zeitung unter anderem damit, dass solche Widmungsexemplare »extrem selten« seien. Roberts selbst wisse nur von zwei dieser Ausgaben, die zuvor überhaupt bei Auktionen angeboten wurden. Eine von Marx mit Widmung versehenes Exemplar hatte 2010 bei einer Auktion einen Preis von 115 000 Pfund erzielt. Erst Ende Januar 2017 war eine weitere von Marx signierte Erstausgabe unter den Hammer gekommen - für 200 000 Euro. Gewidmet war das Exemplar dem belgischen Sozialisten César Aimé Désiré De Paepe. Der Schätzpreis war vom Auktionshaus mit 1600 Euro angesetzt - so sollte offenbar mit einer bewusst niedrigen Ziffer möglichst viel Interesse geweckt werden.
Nun bemisst sich der Wert der gewidmeten Erstausgaben, dieser Begriff geht einem in einem Text über »Das Kapital« nicht leicht über die Tastatur, freilich nicht nur daran, wie viel mit diesen Exemplaren heute an Erlös erzielt werden kann. Diese Ausgaben, so konnte man es 1989 in den in der DDR erschienenen »Beiträgen zur Marx-Engels-Forschung« lesen, »sind einzigartige Zeugen für seine Verbreitungsgeschichte, sie vermitteln zugleich ein Bild über die Kontakte von Marx und Engels«, so der Experte Rolf Hecker. Schon 1986 hatte es in der Schriftenreihe des Karl-Marx-Hauses in Trier geheißen, die Widmungen würden »oft neues Licht auf die Beziehungen von Marx und Engels zu Dritten werfen«. Und auch in Japan stand die Erforschung der Widmungsexemplare hoch im Kurs. Von regelrechten »Ermittlungen« ist die Rede.
Ob nun sein Hannoveraner Freund Louis Kugelmann, ob der Weinhändler und Revolutionär Sigismund Ludwig Borkheim, ob die mit der Familie Marx seit langem befreundete Luise Weydemeyer - sie alle erhielten eine Erstausgabe von »Das Kapital« mit einer Widmung des Autors.
Und so kam auch Eccarius, ein führendes Mitglied des Bundes der Kommunisten und der Internationalen Arbeiterassoziation, in den Besitz eines solchen Exemplars. »Seinem Georg Eccarius, Lond. 18. September 1867. Karl Marx«, lautet die kurze Widmung. Das im vergangenen Sommer für eine Viertelmillion verkaufte Buch wird inzwischen von einem österreichischen Händler für 1,5 Millionen Euro angeboten. Mehrfache Nachfragen des »nd« bei dem Antiquariat blieben leider unbeantwortet. Man hätte schon gern etwas über die Gründe für den Preissprung erfahren.
Dass seltene »Kapital«-Ausgaben zur Kapitalanlage werden und die explodierenden Preise solcher Bücher viele traditionelle Sammler aus dem Rennen werfen, sehen Buchhändler durchaus mit Sorge. Der auf politische Literatur und Socialistica spezialisierte Antiquar Christian Bartsch, sagt zur Preistreiberei: »Um Marx geht es hier nur sehr indirekt«.
Unsignierte Erstausgaben von »Das Kapital« hat auch Bartsch schon verkauft, allerdings für vergleichsweise moderate 12 000 bzw. 15 000 Euro. Heute liegt schon der Ankaufspreis in diesen Dimensionen. Geht die Preistreiberei weiter, müssten auf das Thema spezialisierte Buchhändler wie er wohl bald außen vor bleiben.
Mit den politischen Konjunkturen des Theoretikers Marx scheinen die Preise für frühe Ausgaben nicht viel zu tun zu haben. 1976 wurde eine unsignierte Erstausgabe des ersten Bandes von »Das Kapital« für 12 000 D-Mark bei einer Auktion in Deutschland ersteigert - sie soll einer habsburgischen Privatbibliothek entstammt sein.
Vier Jahrzehnte später erzielte der allererste Band bei einer Auktion in Pforzheim bereits 32 000 Euro. Die erste russische Edition wird heute je nach Zustand mal für gut 30 000 Euro, mal für 17 500 Euro angeboten. Den zweiten und dritten Band von »Das Kapital« in der deutschen Erstausgabe gibt es zusammen für knapp 17 000 Euro. Die beiden ersten Bände mit dem Erscheinungsjahr 1885 waren im Frühjahr 2017 sogar schon für 4000 Euro zu finden.
Aber was kostete die Erstausgabe eigentlich 1867? »Das Kapital« wurde zunächst als Broschur verkauft - für drei Taler und 10 Neugroschen. Das entsprach, glaubt man den Historikern, etwa den damaligen Lebenshaltungskosten einer fünfköpfigen Familie für eine ganze Woche. 25 Jahre und eine Währungsreform später, also Anfang der 1890er Jahre, gab es den ersten Band nunmehr in der vierten deutschen Auflage broschiert für neun Mark, gebunden kostete er elf Mark. Der zweite Band wurde von Marx’ Verleger Otto Meißner ab 1893 für acht beziehungsweise zehn Mark angeboten.
Zum Vergleich: Der Wochenlohn eines Schlossers lag um 1909 bei etwa 20 Mark, so hat es der Sozialhistoriker Jürgen Kocka einmal auf Basis zeitgenössischer Statistiken vorgerechnet. Für ein Kilogramm Butter musste man laut aktuellen Angaben der Bundesbank im Jahr 1882 fast zwei Mark berappen - oder man bekam dafür etwa 40 Eier. Ein Buch wie Marxens »Das Kapital« hätten die meisten Menschen im Norddeutschen Bund und ab 1871 im Kaiserreich durchaus lesen können, die Zahl der Analphabeten war seit Jahrhundertbeginn deutlich zurückgegangen und wurde 1900 bereits mit unter einem Prozent der Bevölkerung beziffert.
Ob der Geniestreich auch und vor allem wie in der breiten Masse aufgefasst worden wäre, steht auf einem anderen Blatt. Friedrich Engels äußerte sich zwar begeistert über den ersten Band und meinte, »so lange es Arbeiter und Kapitalisten in der Welt gibt, ist kein Buch erschienen, welches für die Arbeiter von solcher Wichtigkeit wäre, wie das vorliegende«. Doch von der Erstausgabe, die bei 1000 Exemplaren lag, nahmen zunächst weder die einen noch die anderen übermäßig Notiz.
»Es scheint, dass die Deutschen ihren Beifall am liebsten in Stillschweigen und gänzlichem Verstummen ausdrücken«, schrieb Jenny Marx am Weihnachtstag des Jahres 1867 an den engen Freund Kugelmann. Da war der erste Band von »Das Kapital« schon fast ein Vierteljahr auf dem Markt. Mit Blick auf das »Pack der Liberalen« und die »Vulgärökonomen« hatte sich Marx zuvor schon selbst wortreich bei Weggefährten über eine »conspiration de silence« beschwert und mit Hilfe vor allem von Friedrich Engels versucht, die »Politik des Totschweigens« mittels eigenem »Lärmschlagen« zu besiegen: mit lancierten Rezensionen. »Die Hauptsache« sei, so Engels an Kugelmann, »dass das Buch überhaupt wieder und immer wieder besprochen wird«. Marx allerdings würde sich »wie eine Jungfer« zieren, »so müssen wir andern es eben tun«.
Es ging dabei natürlich zuallererst um die politische Durchschlagskraft des Buches. Marx selbst hatte aber auch im Hinterkopf, dass er für die geplanten weiteren Bände ein wirtschaftliches Fundament brauchen würde. Im Oktober 1867 schrieb er an Kugelmann, »das Fertigmachen meines zweiten Bandes hängt großenteils ab von dem Erfolg des ersten«, dieser sei »nötig, um einen Buchhändler in England zu finden« - und ohne einen solchen wiederum, würden seine »materiellen Verhältnisse so schwierig und störend« bleiben, dass er »weder Zeit noch Ruhe« finden würde, die Arbeit zu vollenden. In der Tat erlebte Marx die Veröffentlichung der folgenden beiden Bände nicht mehr.
»Unter ›Erfolg des Buchs‹ verstehe ich nichts als raschen Absatz«, schrieb Marx im Oktober 1867 an Kugelmann. Um immerhin im Monat darauf an Victor Schily zu korrespondieren, dass »mein Buchhändler« mit dem Vertrieb »in Deutschland zufrieden« sei. Davon konnte bei seiner Frau Jenny nicht die Rede sein: »Wenn die Arbeiter eine Ahnung von der Aufopferung hätten, die nötig war, dies Werk, das nur für sie und in ihrem Interesse geschrieben ist, zu vollenden, so würden sie vielleicht etwas mehr Interesse zeigen«, seufzte sie im Weihnachtsbrief anno 1867 an Kugelmann.
Das Buch machte natürlich dennoch die Runde. Langsamer als zunächst erhofft, aber mit dann doch historischer Wucht. Bei den Arbeitern wurde sie vor allem durch populäre Darstellungen und Zusammenfassungen bekannt, die freilich nicht immer auf Beifall bei Marx und Engels stießen. Dass »Das Kapital« in der Politik und bei Fachleuten zur Kenntnis genommen wurde, dafür sprach die nach einiger Zeit kontinuierlich wachsende Zahl von Besprechungen - über die sich Marx zwar meist belustigte, die ihm aber auch Urteile einbrachten wie jenes, dass er sich mit dem Werk »unter die bedeutendsten analytischen Denker« einreihe.
Im Herbst 1871 war die erste deutsche Auflage von Band eins vergriffen. Marx überarbeitete und ergänzte den Text für eine zweite Auflage, die nun wie auch die dritte je 3000 Exemplare umfassen sollte. 1872 startete eine französische Übernahme in den Buchhandel, deren beide ersten Ausgaben hatten zusammen eine Auflage von 25 000 Exemplaren. Von der »trefflichen Übersetzung« ins Russische wurden in einer ersten Auflage 3000 Exemplare des ersten Bandes von »Das Kapital« gedruckt - und waren Anfang 1873 schon fast vergriffen. Zwei Jahre nach Marx’ Tod veröffentlichte Engels 1885 dann den zweiten Band von »Das Kapital« bei Verleger Meißner in Hamburg, 1894 folgte der dritte Band.
Seither debattieren Legionen von Wissenschaftlern darüber, was der »originale« Marx sei, was von Engels hinzugetan wurde - und was das alles womöglich mit der »Kritik der Politischen Ökonomie« gemacht hat. Geradezu berühmt wurde jene in Klammern gesetzte Anmerkung, mit welcher der dritte Band endet: »Hier bricht das Manuskript ab.«
Damals ging freilich die theoretische und praktische Rezeption von Marx’ Hauptwerk erst richtig los. Und es begann parallel jene Geschichte, in der die frühen Ausgaben von »Das Kapital« erst zu Sammlerstücken und Forschungspreziösen wurden, und schließlich selbst zu renditeheischender Geldanlage.
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