Das Auto muss Platz machen

Geograf Heiner Monheim im Gespräch über Schnellwege, Last-Pedelecs und weitgehend autofreie Städte

Herr Monheim, fahren Sie regelmäßig Rad?
Ja, fast täglich. Ich nutze das Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Transport von Lasten und auch in der Freizeit. Bei Zugfahrten nehme ich ein Faltfahrrad mit, das mich am Zielort mobil und flexibel macht.

Und das macht Ihnen immer Spaß, trotz der Gefahren und der vielen Hindernisse beim Radfahren?
Als routinierter Radfahrer habe ich keine Angst und frage mich auch nicht, ob es auf meiner Strecke Radwege gibt. Rund 80 Prozent der Bundesbürger sind aber Sonntagsradler: Da sie ihr Rad ganz selten nutzen, bei Sonnenschein und am Stadtrand oder im Wald, haben sie Angst davor, dass sie mit stressigen Situationen nicht klar kommen. Das war mal anders - bis in die frühen 1960er Jahre war das Fahrrad mit Abstand das wichtigste Verkehrsmittel.

Heiner Monheim

Der Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim (geb. 1946) ist emeritierter Professor für Angewandte Geografie, Raumentwicklung und Landesplanung an der Universität Trier. Er leitet das raumkom-Instituts für Raumentwicklung und Kommunikation, das Kommunen, Ministerien, Verkehrsunternehmen und Verbände bei Fragen zukunfts-fähiger Konzepte in der Stadt- und Raumentwicklung berät. Mit dem Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs und Vorstandsmitglied des Fahrgastverbandes »Pro Bahn« sprach Kurt Stenger.

Was hat sich verändert?
Wir sind ein Autoland geworden. Die Stadt- und Verkehrsplanung hatte nur noch das Auto im Kopf, glaubte, dass das Fahrrad am Aussterben sei. Dabei hat es nicht ein einziges Jahr gegeben, in dem mehr Autos als Fahrräder verkauft wurden. Es gibt in deutschen Haushalten 46 Millionen Autos, aber 71 Millionen Fahrräder.

Stehen das Auto und das Fahrrad also in direkter Konkurrenz?
Ja, in Flächenkonkurrenz. Entweder kriegt jede Verkehrsart ihre eigene Fläche, das ist die klassische Separationslogik, oder Autos und Fahrräder benutzen nach der Integrationslogik die gleiche Fläche. Shared Space geht natürlich nur, wenn der Autoverkehr verlangsamt wird. Da Tempolimits bisher tabu sind, setzt die Verkehrsplanung auf die Separationslogik. Das muss und wird sich ändern.

Ließe sich nicht einfach die Spurbreite der Radwege vergrößern?
Es ist klar, dass der Radverkehr mehr Platz braucht. Fahrräder sind heute im Schnitt 30 Zentimeter breiter als vor 30 Jahren. Sie haben breitere Lenker, es gibt mehr Lastfahrräder und Fahrradanhänger. Wegen des demografischen Wandels werden auch mehr ältere Menschen ab 70 unter Umständen mit Dreirädern unterwegs sein.

Was bedeutet, dass die Autospuren schmaler werden müssen?
Ja natürlich, man kann ja nicht Häuser abreißen oder Bäume fällen. 40 Jahre lang haben wir die Autofahrflächen völlig überdimensioniert. Eine normale Spur ist bei uns 3,50 Meter breit, selbst auf der Autobahn sind es an Baustellen nur 2,20 Meter. Wenn sie alles auf das nötige Maß reduzieren, würde der Verkehr nicht etwa zusammenbrechen, sondern leistungsfähiger. Wenn weniger überholt werden kann und die Geschwindigkeiten gleichmäßiger sind, gäbe es nämlich deutlich weniger Staus.

In London sind Fahrradbrücken über Verkehrsknotenpunkte geplant, anderswo gibt es grüne Wellen für Fahrradfahrer. Was ist sonst noch sinnvoll?
Die Einrichtung eines Netzes von Fahrradstraßen. Der Gesetzgeber hat diese Möglichkeit vor 20 Jahren in der Straßenverkehrsordnung eingeführt, doch nur wenige Städte wie Bonn, Münster oder München tun dies, und das mit angezogener Handbremse. In einer Fahrradstraße wird die Fahrbahn zum Radweg erklärt, wobei Anlieger-Autoverkehr mit Tempo 30 zulässig bleibt. Es darf nebeneinander geradelt werden, was wichtig im Umfeld von Schulen ist. Das zweite, was wichtig ist, sind Radschnellwege. Wir haben bisher drei oder vier davon, bräuchten aber Tausende.

Um der technischen Entwicklung mit E-Bikes und schnellen High-Tech-Rädern gerecht zu werden?
In den letzten zehn Jahren hat sich die Durchschnittsdistanz des Radverkehrs verdreifacht. Heute gibt es Berufspendler, die zig Kilometer mit dem Pedelec zur Arbeit fahren, und es gibt viele Fahrradtouristen. Also braucht man Radwegnetze, die auch überregional konzipiert werden. Die deutsche Politik ist hierbei noch ziemlich hinterm Mond.

Es heißt, der Radverkehr nimmt vielerorts wieder spürbar zu.
Das trifft nur auf Großstädte wie Berlin, München und Leipzig zu, wo es früher hieß, hier könne man gar nicht Radfahren.

Warum in den Großstädten?
Weil vor allem hier das Auto in die Krise geraten ist. Erstens ist die großstädtische Bevölkerung lernfähiger, zweitens haben die Großstädte die ärgsten Verkehrsprobleme. Wer mit dem Auto nur noch schwer vorankommt, steigt um: aufs Fahrrad, oft in Kombination mit dem öffentlichen Nahverkehr, der rasant zunimmt.

Sie sprechen sich für eine bessere Verknüpfung von Radverkehr und ÖPNV aus. Warum ist das wichtig?
Im suburbanen Raum ist das Fahrrad der ideale Zubringer zur S-Bahn. In Holland kommen 60 Prozent aller ÖPNV-Nutzer mit dem Rad zur Starthaltestelle und von der Zielhaltestelle nutzen wiederum 40 Prozent für die letzte Etappe das Rad. Das ist bei uns noch nicht so, da wir keine gut ausgebauten Bike-and-Ride-Systeme haben. Es fehlt an Radstationen an den großen Bahnhöfen, an Parkhäuern mit Service, mit bewachtem Abstellen, ja überhaupt an Abstellplätzen.

Stattdessen muss man sehen, ob man das Rad überhaupt irgendwo anschließen kann. Überdacht sind die Plätze auch kaum.
Auch dabei hat unsere Politik bisher geschlafen. In Holland hat jede Kleinstadt ihre eigene Radstation, in ganz Deutschland gibt es gerade mal 100 davon. Wer lässt schon sein 4000-Euro-Pedelec unbewacht über Nacht stehen? Diebstahlschutz geht mit einfachen Mitteln, etwa mit einem Gitterkubus. Natürlich sind Radstationen überdacht und bieten Wetterschutz.

Wir sind jetzt sicher an der S-Bahn angekommen und fahren mit ihr in die Stadt der Zukunft. Wie kommen wir vom Zielbahnhof weiter?
Da helfen Leihfahrradsysteme - ein hervorragendes Mittel, den öffentlichen Verkehr mit dem Fahrrad zu kombinieren. Hier ist Paris Pionier.

In Berlin gibt es inzwischen zwei größere Anbieter. Schon wird diskutiert, ob das nicht zu viel ist.
Dieser Service muss dezentral vorhanden sein. In Berlin sollen es 5000 Leihfahrräder werden, in China gibt es Städte mit 70 000 Leihfahrrädern, die mit dem ÖPNV verknüpft sind.

Noch ist der Trend zum Fahrrad nicht recht da. Es hat ja auch den Ruf, nur etwas für die Jungen und Junggebliebenen, die Sportlichen und Umweltbewussten zu sein.
Gerade bei Rentnern steigt der Anteil deutlich an. Das hat damit zu tun, dass der Arzt dem Herzkranken sagt: »Bewegen Sie sich mehr, fahren Sie endlich Fahrrad!« Das ist nun mal gesund und die Lebenserwartung von Radfahrern ist deutlich höher als die von Nicht-Radfahrern.

Wie stark könnte der Fahrrad-Anteil am städtischen Verkehr mittelfristig steigen?
Im Moment liegen wir bundesweit bei 12 Prozent. Der Anteil könnte locker auf 30 Prozent steigen.

Ist dies nur eine Zielvorgabe für Verkehrspolitiker und Stadtplaner?
Autos werden beworben, indem die Verkäufer psychologisch ganz raffiniert Lust auf ihr Produkt machen. Genauso muss das auch die Fahrradindustrie tun.

Das Fahrrad als künftiges Statussymbol städtischer Mobilität?
Ja, sicher. Es ist flexibel und besonders individuell. Mittlerweile gibt es 2500 Fahrradtypen. Im XXL-Fahrradgeschäft braucht man Stunden, bis man sich entschieden hat. Man kann sich ja in allen Details sein individuelles Fahrrad maßanfertigen lassen.

Was die soziale Ungleichheit sichtbar macht: Die einen strampeln sich mit der 30-Euro-Rostlaube ab, die anderen fahren E-Bikes oder High-Tech-Räder für 10 000 Euro oder mehr. Wird es irgendwann Schnellspuren und Langsamspuren geben?
Ich denke, die sozialen Unterschiede in der Fahrradnutzung sind anders, als Sie es vermuten. Da das Fahrrad lange als Arme-Leute-Verkehrsmittel galt, haben wir in den alten Industrierevieren wie dem Saarland oder dem Ruhrgebiet die größte Autofixierung. Man kann über eine staatliche Förderung wie bei Elektroautos nachdenken, damit sich auch einfache Leute ein Pedelec leisten können.

Stadtväter müssten schon wegen den zu hohen Schadstoffwerten den Radverkehr fördern.
Sie tun es aber nicht, denn Verkehrspolitik ist ideologisch aufgeheizt. Unistädte haben weltweit die höchsten Fahrradanteile. Warum? Weil das ein sehr intelligentes Verkehrsmittel ist. Auch als Politiker müsste man halt ein bisschen nachdenken.

Ist das nicht eher eine Frage der Dominanz der Autolobby?
Es ist nicht nur die Autolobby. Einzelhändler schreien am lautesten nach neuen Straßen und Auto-Parkplätzen. Auch der Medienbereich, der von Anzeigen der Autoindustrie lebt, spielt eine große Rolle.

Apropos Einzelhändler: Lastenfahrräder kommen langsam in Mode. Wird sich der Gütertransport auf zwei Rädern durchsetzen?
Beim Stückgut-Transport auf jeden Fall. Nicht ohne Grund hat die Post die größte deutsche Last-Pedelec-Flotte, denn das rechnet sich. Mit diesen Gefährten kommt man überall hin. Die Produkte werden auch immer leichter.

Wie stellen Sie sich die optimale Stadt der Zukunft vor?
Das Individual-Auto als Verkehrsmittel ist verschwunden. Natürlich wird es noch Taxen geben, auch Car-Sharing und einige autonom fahrende Pkw. In Deutschland reichen vier Millionen Pkw, um den Teil der Bevölkerung, der nicht auf dem Fahrrad sitzen will oder kann, mobil zu halten. Wenn die Autos weg sind, haben wir wunderschöne Städte, können Millionen Bäume pflanzen, Kinder wieder auf die Straße lassen, nachts bei offenem Fenster schlafen und wir tun das Notwendige für den Klimaschutz.

Und ohne Autos macht Fahrradfahren auch Ungeübten Spaß.
Dann braucht es auch keine Radwege oder Radfahrspuren mehr, weil der Radverkehr einfach dominant ist. Und die wenigen Autos erscheinen dann nicht mehr als Bedrohung.

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