Die letzten Tarahumara
Zu Besuch in einer der letzten unversehrten Gemeinden der Rarámuri Indigena
Der eiskalte Wind setzte wieder ein und das durchweichte Hemdchen, das ich trage, klebt an meinem Leib. «Bist Du ok?», ruft mir Eduardo* zu, der ein paar Schritte vor mir läuft und mich nun mit zusammengekniffenen Augen anguckt. Als wir oben, auf dem 1800 Meter hohen «Mesa» (Tisch), einem der vielen Hochplateaus der Sierra Tarahumara standen und plötzlich der Regen einsetzte, war es seine Idee gewesen loszulaufen, hinab ins Dorf - anstatt sich oben in einer Höhle zu verkriechen, so wie es Manuel, unser Bergführer, vorgeschlagen hatte. Jetzt, wo wir völlig durchnässt sind und die Temperatur um mehr als 15 Grad innerhalb der letzten Stunde gesunken war, ist es zu spät anzuhalten und einen Unterschlupf zu suchen. Die Kälte würde unseren durchnässten Körpern zu sehr zusetzen, außerdem steigt das Wasser in den schmalen Fußpfaden, welche sich in einigen Stunden in stürzende Bäche verwandeln sollten. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass mein Wunsch, das Volk der Tarahumara zu besuchen - welches dafür bekannt ist als Jäger tagelang rennend seine Beute bis zur Erschöpfung zu hetzen - dazu führte, dass ich nun selber renne wie noch nie zuvor.
Ich lüpfe die vom Regenwasser durchtränkte Krempe meines Hutes und sehe Manuel, der unser kleines Himmelfahrtskommando leitet, über einen steilen Pass laufen. Sein pinkfarbenes Hemd wölbt sich im Wind. Mein Blick wandert hinüber zu der Flanke des Canyons, die auf der anderen Seite der tiefen Schlucht in den regenverhangenen Himmel steigt. Dort sind die Mohnfelder deutlich zu erkennen - kleine, quadratische Felder, die wie kahlgeschoren wirken. «Dort», hatte Manuel neulich gesagt, als wir gemeinsam mit der Anthropologin Adriana auf einem Felsen hinter seinem Haus gesessen hatten, «dort wird unsere Freiheit enden». Sein Gesicht hatte sich verfinstert und er zeigte auf den Hang auf der anderen Seite des Canyons. Dann stand er auf und lief zurück in sein Dorf, das sich auf 1600 Höhenmetern an die Flanke des Canyons presst.
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Die Region ist in Mexiko als das «Triángulo Dorado», als das Goldene Dreieck des «Narcotráfico» (Drogenhandels) bekannt, und bezeichnet das Gebiet zwischen den Bundesstaaten Chihuahua, Durango und Sinaloa. Im Laufe der letzten Dekade, als Konsequenz des vom Präsidenten Miguel Calderon erklärten «Krieges gegen die Drogen», wuchs eine Generation der wohl gewaltsamsten Narcotraficantes Mexikos heran. Das Maß an Gewaltbereitschaft und perfider Kreativität dieser jungen «Sicarios», wie die Auftragsmörder des Narcotráficos genannt werden, zeichnet sich in der Inszenierung der Leichen ihrer Opfer ab. Diese werden fotografiert und in der nationalen Presse allzu gerne den erschrockenen Lesern vorgeführt.
Die Bezeichnung «Goldenes Dreieck» reiht die Region in die Gruppe der berüchtigtsten Herstellungsorte von Opium ein: die Goldenen Dreiecke von Burma, Laos und Thailand. Doch bei der Berichterstattung über dieses kleine Dreieck mitten in den tiefsten Canyons Nordamerikas, in dem sich 40 Prozent der Morde des gesamten Landes abspielen, fehlt oft ein wichtiger Aspekt: die radikale Zerstörung eines indigenen Volkes, dessen Kultur bis dato die unverfälschste unter Mexikos Indigena war. Der letzte Artikel der Reporterin Miroslava Breach, die diesen März von dem einundzwanzigjährigen Auftragsmörder Romeo R. M. mit acht Kugeln niedergestreckt wurde, handelte von eben dieser Vertreibung der Ureinwohner Sierra Tarahumara. Sie trafen vermutlich vor mehr als 15 000 Jahren über die Beringstraße hier ein und werden heute meist «Rarámuri» (der laufende Fuß) genannt.
Hier oben lebt eine der letzten, unversehrten Gemeinden der Rarámuri Indigena, im Auge des Sturms, dem Druck der Mohn- und Marihuana anbauenden Narcos standhaltend. «Über die Pläne Donald Trumps, eine Mauer zu bauen, lachen sie nur», erklärte mir Isela Gonález, Direktorin der Nichtregierungsorganisation «Alianza Sierra Madre» schmunzelnd. «Solange die Nachfrage der US-Amerikaner nach illegalen Substanzen wächst, wird es immer Wege dies- und jenseits der Landesgrenze geben, auf denen die Ware an seine Abnehmer gelangt. Das Netz von Zwischenhändlern und Händlern, Bestechung und Erpressung sowie der Druck des Geldes der Investoren erstreckt sich auf beiden Seiten der Grenze.» Die Wut der Narcos dieser Tage speist sich vielmehr aus dem Umstand, dass ihr Bestsellerprodukt Marihuana in immer mehr Staaten der USA legalisiert wird und daher das Angebot die Nachfrage zu übersteigen beginnt. So haben die Narcos einen neuen Sturm entfacht, bauen nun Mohn an und wollen mit dem daraus gefertigten Heroin den US-amerikanischen Markt geradezu überschwemmen. Ihre Dealer dort bieten die Droge derzeit billig an, um vor allem neue, junge Abnehmer zu finden. Sie sollen dabei helfen, das große Geschäft, das in Mexiko inzwischen rund 40 Millionen Dollar abwirft, am Laufen zu halten. Die Rechnung geht auf, denn laut einer im März dieses Jahres im «JAMA Psychiatry Journal» veröffentlichten Studie hat sich die Zahl der Heroin-Konsumenten seit 2001 in den USA verfünffacht.
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«Ich mache mir vor allem Sorgen um die jungen Rarámuri», sagte die Anthropologin Adriana in abendlicher Runde einige Tage zuvor. Groß ist die Schmach der jungen Rarámuri-Männer, die Unterdrückung widerstandslos hinzunehmen. Mit anzusehen, wie ihre Väter machtlos dastehen, wenn ihnen ihre Felder abgenommen werden und sie unter vorgehaltener Waffe zur Arbeit auf diesen gezwungen werden. Dabei sind die Unterdrücker selbst kaum viel älter als die jungen Rarámuri-Männer. «Sie sind meist zwischen neunzehn und dreiundzwanzig Jahre alt und stehen ganz unten in der Hierarchie des Narcotráfico. Sie wurden in Sinaloa und Chihuahua zur Bestellung und Verteidigung der Mohn- und Marihuanafelder rekrutiert. Alleine hausen sie hier oben in der einsamen Sierra neben ihren Feldern, nehmen Drogen und beginnen ihre Spielchen zu spielen», erzählt Adriana. «Anfangs wurden die unfreiwilligen Arbeiter für ihre Maloche auf den Feldern der Narcos entlohnt, heute ziehen die Wächter es vor, den Lohn der Rarámuri selbst einzusacken, was man ihnen von ›oben‹ auch durchgehen lässt.». Mit neunzehn Jahren, im ersten Semester ihres Anthropologie-Studiums, bereiste Adriana die Sierra Tarahumara das erste Mal und verliebte sich in die Menschen dieser Gegend. Jedes Jahr kehrt sie seither zurück und versucht, so gut es geht und ohne selber in die Schusslinie zu geraten, die Situation ihrer Freunde zu verbessern. In der Region ist sie als die «verrückte Anthropologin» bekannt, ein willkommenes Stigma, unter dessen Deckmantel sie auf wundersame Weise jedes Jahr unbescholten in dieser wohl gefährlichsten Region Mexikos ein- und ausgeht.
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Mein Blick wanderte hinunter ins Tal, wo der Asphalt der jüngst erneuerten Straße silbrig in der Abendsonne schimmerte. Nicht viele Autos passieren diese Route, auf der man Glück haben muss, nicht an einer von den «Zetas» oder den «Chapos» errichteten Straßensperre zur Ader gelassen zu werden. Die Steine, die in kleinen Lawinen den Berg hinabrollen und sich auf dem Asphalt ansammeln, werden nicht weggeräumt, sondern als nützliche Barrikaden liegengelassen. Unheilvoll erschien jeder dieser Haufen, als wir uns Tage zuvor in einem schäbigen Pick-up-Truck unseren Weg durch die Sierra bahnten. Diese Vorahnung verfestigte sich, als hinter einer Kurve eine Karawane auftauchte. Drei riesige Lastwagen, grau und mit den Resten einer zerfetzen, im Wind flatternden Plane, erweckten das Bild von Geisterschiffen. Auf den Ladeflächen standen eng aneinander gedrängt Frauen, Kinder und Männer mit ernsten Mienen. Es waren Rarámuri. Ihre Habseligkeiten in den Händen haltend, warfen sie uns lange Blicke zu, als wir an ihnen vorbeizogen. Von hier an schwiegen wir, während der Truck hinauf an den äußeren Rand des Canyons kroch und dann die andere Seite hinab, bis zu dessen feucht-tropischem Fuß, 500 Meter über dem Meeresspiegel.
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Dort unten im Tal liegen das Dorf und unser Ziel, zwischen steilen Felswänden am Ufer eines Flusses. Bei seiner Erbauung zu Beginn des 18. Jahrhunderts schöpfte man aus dem Vollen, das Geld kam von der nahegelegenen Silbermine und spiegelte den Reichtum und Stolz seiner Anwohner wider. Es dämmerte bereits, als wir eintrafen und unsere Taschen in dem Haus des ehemaligen Bürgermeisters abstellten. Dessen sechzigjährige Frau bot uns ein Abendessen an, welches wir jedoch ob der unerträglichen Hitze sowie des Anblickes der ranzigen Fleischbrühe und abgestandener Bohnen dankend ablehnten. Stattdessen beschlossen wir, noch eine Runde im Dorf zu drehen. Dort an der nächsten Straßenlaterne standen sie dann, die ersten Narcos - Männer in abgewetzten Kapuzenpullovern, die im Schatten ihres Pick-up-Trucks stehend auf jemanden einredeten, die Sturmgewehre in den Händen.
Überfreundlich grüßten wir, einem «Gute Miene zu bösem Spiel»-Habitus folgend, den man bereits an einem Tag in der Sierra erlernt und welcher die Grundvoraussetzung für das Überleben im Goldenen Dreieck zu sein scheint. Hastig drehten wir unsere Runde im menschleeren Dorf und kehrten zurück zu unserer Herberge. Auf der Veranda mit Blick auf die Straße, saß das alte Bürgermeisterpaar in Dunkelheit getaucht. Ein Licht anzuzünden hatten sie sich bereits vor Jahren abgewöhnt und sie unterhielten sich im Flüsterton. Ob man lebt oder nicht, ist in einem Örtchen wie diesem für viele auch eine Frage, wie gut man mit Gott steht. «Gottlob geht’s uns gut», sagt die Frau des pensionierten Bürgermeisters jedem, der sich nach dem Befinden der Familie erkundigt. Grund zum Bangen hat sie allemal - gerade letztes Jahr wurde der in den Nullerjahren regierende, sowie neu zur Wahl aufgestellte Bürgermeister auf offener Straße von einem Sicario erschossen. Mit ihm stieg die Zahl der im letzten Jahr unfreiwillig aus dem Leben gerissenen Anwohner des Dorfes auf 16, wobei die Opfer innerhalb der Reihen der Narcos nicht mitgezählt werden. Drei Töchter hat das Paar, zwei von ihnen sind Krankenschwestern. Was es heißt, Krankenschwester in diesem Dorf zu sein? Nun, es heißt, dass man jederzeit abgeholt werden kann, um bei Schusswechseln und Messerstechereien verwundete Narcos zu versorgen.
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Mein Hut ist so durchtränkt, dass sich die Krempe in eine Art Scheuklappe verwandelt hat, die meinen Blick auf meine durchtränkten Schuhe freigibt, die sich mal von Stein zu Stein hangelnd, mal in den lehmigen Boden versinkend ihren Weg suchen. Eduardos Beine treten ins Bild und ich spüre seine Hand auf meiner Schulter. «Du darfst jetzt nicht nachlassen», sagt er und schaut mir prüfend ins Gesicht. Er wirkt euphorisch. Dies ist der erste Ausflug in die Berge seit langer Zeit für ihn. «Alles klar», schreie ich gegen den Wind an und merke, wie das Adrenalin durch meinen Körper schießt.
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Josie, die ältere der beiden Krankenschwester-Töchter, hat es irgendwann nicht mehr ausgehalten im Dorf. Vor drei Jahren zog sie nach Chihuahua-Stadt, um in einem Krankenhaus zu arbeiten. Das filigrane Geflecht von Beziehungen, gespeist aus der guten Reputation ihres Vaters, sein stets offenes Ohr, seine Hilfsbereitschaft, sein Wirken als aktives Mitglied der Gemeinde, hatten ihn über Jahre hinweg unentbehrlich gemacht. Seine Aufmerksamkeit galt sowohl Narcos, wie auch Nicht-Narcos, hatte er sie doch alle aufwachsen sehen. Und doch hatte Josie irgendwann nicht mehr schlafen können. Vor allem ging sie aber, weil der «Chapo» inzwischen erfahren hatte, dass sie wusste, wer er war. Ein respektabler, eleganter Señor in einer Ranch in den Bergen um das Dorf. Die ganze Familie hatte gelacht, als sie im Januar 2016 im Fernsehen die wie eine «Telenovela» (Seifenoper) inszenierte Verfolgungsjagd des Joaquín «El Chapo» Guzmáns gesehen hatten. Dieser Mann mit dem schmutzigen Feinrippunterhemd und schlecht gefärbten Haaren hatte nun wirklich gar nichts mit dem echten Chapo Guzmán zu tun. Die Vorstellung, dies soll der Mann sein, der seit über zwanzig Jahren die Sierra beherrscht, erschien grotesk. Dennoch mischte sich unter ihr Lachen auch Angst, dass die Identität des wahren Chapo auffliegt.
Der nun bereits vor elf Jahren erklärte Drogenkrieg hat bis heute keine nennenswerten Erfolge verbucht. Die Militärpräsenz der inzwischen rund 600 Soldaten scheint in der 60 000 Quadratmeter messenden Sierra Tarahumara keinerlei Effekt zu haben. So wundert es nicht, dass böse Zungen behaupten, das Militär mache gemeinsame Sache mit den Narcos. «Es ist schon komisch, dass auch eine Dekade nach dem Beginn der militärischen Interventionen immer noch keine nennenswerten Resultate erzielt wurden und die Menschen mehr Angst vor den Militärs als vor den Narcos haben», sagt auch Isela Gonález, Direktorin der Nichtregierungsorganisation «Alianza Sierra Madre». Derweil zieht sich der Staat immer mehr aus der Region zurück - Schulen, Krankenhäuser, Behörden und andere staatliche Einrichtungen verwaisen, obwohl es immer mehr zu tun gibt. «Einen bedeutenden Erfolg hat unsere NGO vor ein paar Wochen erreicht», führt Gonález fort, «als wir vor dem interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Beschluss erwirken konnten, dass der mexikanische Staat in die Rarámuri-Gemeinde Choréachi zurückkehren muss und diese zu beschützen hat». Eine gerichtliche Anordnung an den Staat, seine Bürger nicht im Stich zu lassen, hatte es auch in Mexiko noch nie gegeben.
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Einige Tage bevor ich Adriana kennenlernte, saß ich auf dem Beifahrersitz des kleinen Toyotas meines Fremdenführers. Der Mittdreißiger, welcher von allen nur «Rábano» (Rettich) genannt wird, fuhr unsere kleine Touristengruppe auf einen Tagesausflug zu den Wasserfällen von Cusárare durch die Sierra. Hier und dort grüßte er entgegenkommende Autofahrer und es schien, als kenne er jeden hier. In diesem harmonischen Bergidyll schien das Bestehen einer Parallelwelt umso verstörender. Wie viele seiner alten Schulfreunde bereits im Drogenkrieg gestorben sind, fragte ich Rábano. «Fünfzehn», hatte dieser zurückgegeben. Und wie viele der Männer seiner Generation Narcos seien, hatte ich dann wissen wollen, worauf Rábano zurückgab: «Mehr als die Hälfte». Dann fügte er noch hinzu: «Aber es sind nicht bloß die Männer - auch Frauen seien unter ihnen und Kinder.» Sie leben in den Bergen der Sierra, in Hütten und Verschlägen am Rande ihrer Felder.«
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»Es wird regnen«, hatte Manuel vor einer Stunde gesagt und die Augen auf den dunklen Fleck am Himmel gerichtet, der vor uns über den Rand des Hochplateaus gekrochen kam. »Das sagst du jetzt schon seit drei Tagen«, hatte ich belustigt zurückgegeben. Ich lüpfe die nasse Hutkrempe, um meine Gefährten ins Blickfeld zu bekommen. Beide stehen am Hang mit Blick auf den Wasserfall. Sie winken und laufen dann weiter den Canyon hinab Richtung Dorf. Als 2006 das, was man in Mexico schlicht »La Violencia« nennt, begann und die ersten Marihuanafelder in die Hänge des Canyons hineinrasiert wurden, schienen die Narcos noch etwas von dem über Generationen geprägten Anstand der Menschen hier zu haben. Denn die Narcos seien zu 70 Prozent Leute wie du und ich, erzählt Rábano. Manchmal, meist abends, kommen diese »narcofizierten« Ex-Dorfbewohner für ein paar Stunden ins Dorf. Doch sie sind dort nicht Teil der Gemeinschaft, sondern werden bloß geduldet und gefürchtet, jedoch niemals konfrontiert.
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Auf dem Rückweg hatte es Rábano auf einmal sehr eilig - unruhig von einem Bein aufs andere tretend, hatte er vor dem Toyota gestanden, als wir noch am Wasserfall Fotos machten. Wir können noch oben, wo die Straße über die Bergkette führt, Fotos machen, hatte er gesagt, als wir im Auto saßen und er aufs Gaspedal drückte. Doch dann, als wir oben am Hang standen, hatte er zum Aufbruch gedrängt, noch bevor die Sonne untergegangen war. »Warum die Eile«, hatte ich wissen wollen. »Wir sind auf Zeta-Boden«, entgegnete er und steuerte den Toyota immer schneller in die Kurven der Straße. »Und ich kenne die Zetas nicht.« Creel, die erste Station des Zugs »Chepe«, welcher von Chihuahua-Stadt aus die Sierra durchkreuzt, ist heute die einzige, noch verbliebene Touristenbastion der Sierra Tarahumara. Creel, erklärte Rábano, sei unter der Kontrolle der Chapos. »Der regionale Don war in der Oberstufe einen Jahrgang über mir. Wenn wir an eine der Straßenkontrollen der Narcos kommen, muss ich nur langsam auf sie zufahren und sie erkennen mich«, sagt Rábano und plötzlich ergibt sein freundliches Zücken des Cowboyhutes einen ganz anderen Sinn. »Die Zetas kennen mich jedoch nicht.«
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Das Geröll unter meinen Schuhen gerät ins Rutschen und reißt mich aus den Gedanken. Ich lüpfe die Krempe des Hutes und sehe meine Gefährten auf eine breite Straße rennen, zu einem Bauprojekt, welches während der letzten Jahre immer wieder ins Stocken geriet, nun aber zum Abschluss gebracht werden soll. Planiert, jedoch noch nicht befestigt, ähnelt die Straße durch den Regen einer Rutschbahn, die ins Tal führt. Das Straßenprojekt wird von den Männern der Rarámuri ausgeführt. 150 Pesos - rund sieben Euro - verdienen sie für die Arbeit pro Tag unter der sengenden Sonne. Sieben Euro dafür, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Denn die Straße bietet direkte Anschlüsse auch, oder vor allem, für die Narcos. So werden sich die Rasuren in der Landschaft des Canyons bald mehren und Rarámuri nicht mehr auf ihren eigenen Feldern arbeiten, sondern auf den Mohnfeldern der Narcos. »Dort drüben«, hatte mir Manuel noch beim Aufstieg zur Bergkette erklärt, »zwingen sie die Leute bereits unter vorgehaltener Waffe zur Arbeit auf den Mohnfeldern«. Das ist die neueste Methode der Narcos - nach der Enteignung kommt die Zwangsarbeit.
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Die Mädchen, traditionell mit dem Hüten der Ziegen in den Bergen beauftragt, verlassen heute nicht mehr die Grenzen des Dorfes. Zu viele sind bereits von Narcos vergewaltigt worden. »Die Regierung schert sich nicht um das Schicksal dieser Frauen - weder gibt es Statistiken, noch eine Anlaufstelle für Traumatisierte«, sagt Diana Villalobos, Direktorin der 1999 mit dem Ziel der technischen Hilfestellung für die Indigena der Sierra gegründeten NGO »Contec«. Ganz so wie ihre Kollegen von der »Alianza Sierra Madre«, befasst sich ihre Organisation hauptsächlich mit der juristischen Verteidigung der Indigenas. »Wir begleiten Rarámuri, die vertrieben, vergewaltigt, erpresst oder misshandelt wurden sowie Hinterbliebene von Mordopfern«, sagt Villalobos und fügt hinzu, dass die Regierung für diese Menschen keinerlei Hilfen bereitstellt. »Ich spreche dabei nicht nur von den Menschen der Sierra Tarahumara und Chihuahua, sondern vom ganzen Land.« Selbst wenn der Drogenkrieg eines Tages enden sollte, wird das mexikanische Volk noch Jahrzehnte mit den Auswirkungen von Gewalt und Vertreibung zu tun haben. Als erste und einzige Instanz hat Contec dieses Jahr begonnen, Opfer und deren Familien auf ihrer Flucht aus der Sierra zu begleiten und Hilfestellung zu geben. »Legale Schritte gegen die Gewalttäter lassen sich jedoch nicht einleiten«, sagt Villalobos seufzend, »denn die Angst der Opfer vor den Folgen einer Anzeige ist zu groß«. Man kann es ihnen nicht verdenken, scheint das Recht den Staat doch schon lange verlassen zu haben. Dennoch ist die Anzeige, so Villalobos, der einzige Weg, den Tätern beizukommen.
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Die Straße verbreitert sich und vor uns liegt die Schule. Doch der Lehrer kommt nur noch alle zwei Wochen und so liegt das Gebäude verlassen da inmitten der Sintflut. Manuel, der ein kleiner Punkt weit vor mir war, bewegt sich plötzlich nicht mehr. Als ich näherkomme, sehe ich, dass ein Lederriemen seiner Sandale gerissen ist. Er knüpft das Schuhwerk neu zusammen, aber der Riemen reißt erneut, worauf der Rarámuri einfach weiter läuft und die lose Sandale wild um seine Fußfesseln schlägt. Die Rarámuri sind die ausdauerndsten Läufer der Welt. Etliche Forscherteams haben bereits Aufzeichnungen ihrer Lauftechniken gemacht, ihre Ernährung und Gehirnwellen studiert sowie Theorien zum Barfußlaufen entwickelt. Das Laufen der Rarámuri geht auf die Jagd zurück, denn traditionell jagen sie, indem sie mit dem Tier durch die Sierra laufen, bis es aus Erschöpfung zusammenbricht. Diese Hetzjagd kann Stunden, ja Tage andauern. Neben dem Ziel, das Tier zu erlegen, hat die Jagd vor allem eine spirituelle Bedeutung. Das erlegte Tier wird zum Opfer, welches den Jägern die eigene Demut, die sie dem Leben entgegenbringen sollten, vor Augen führt.
»Die Rarámuri sind Kämpfer, das haben sie deutlich gezeigt, als im 15. Jahrhundert die Jesuiten in die Region kamen und versuchten, ihnen das Land abzunehmen«, sagt Adriana. »Zweihundert Jahre widerstanden sie, bis sie schließlich den neuen Herren des Landes weichen mussten und sich in die unwegige Bergregion der Sierra zurückzogen.« In der Einsamkeit der Berge erklärten diese Menschen der Moderne als solche eine Absage. »Das ist es, was die meisten Leute einfach nicht verstehen«, erklärte mir Adriana, als wir im Schutze der großen Plastikplane, die das Vordach zu Manuels Haus bildet, Bohnen verlesen. »Hier in Mexiko hat fast jeder ein romantisches Bild von den Rarámuri im Kopf. Doch dieses Bild hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun, und sobald diese Leute hierher kommen und das Nichtstun der Rarámuri sehen, denken sie ›Faulheit‹. Wenn sie die Kargheit der Behausungen sehen, denken sie ›Kulturlosigkeit‹. Dann bemerken sie die langen Wege zur Wasserstelle und zum Feuerholz und denken ›das kann man doch besser machen!‹ Sie kommen mit ihren Ideen und allerlei Gebrauchsgegenständen vom Wanderschuh bis zur Kettensäge, die helfen würden, das Leben der Rarámuri komfortabler und effizienter zu gestalten.«
Wenn dann die Einsicht folgt, dass all dies nicht gewünscht ist, sitzt die Enttäuschung tief. »Was sie nicht sehen, ist die spirituelle Dimension - mit der sich die Rarámuri seit Jahrhunderten befassen. Jedes Umräumen der Dinge der profanen Welt stellt eine potenzielle Störung in der Ordnung ihrer spirituellen Welt dar.« Sie lächelt und blickt auf die sich füllende Schale. »Kargheit hilft, einen Überblick zu bewahren, einen Sinn für das Wichtige, sowie Demut zu üben.« Sie lacht, als sie die Hände ins Kreuz stemmt und den Rücken streckt. Seit Stunden hocken wir auf Steinen, denn im Rarámuri-Haushalt gibt es keinen Stuhl, keinen Tisch, keinen Ort, den Körper auszuruhen. »Ich weiß, ich sollte das nicht sagen«, sagt Adriana etwas verlegen, »viele meiner Antropologen-Kollegen halten mich für naiv, doch ich denke, dass die Rarámuri auch den Narcotráfico überstehen werden.« Überrascht schaue ich auf. »Ihre Geschichte hat die Rarámuri gut auf diese Situation vorbereitet und ich glaube, dass sie die Kraft haben werden - vielleicht als die einzigen Mexikaner - die Violencia zu überstehen, ohne Teile ihrer Identität einzubüßen oder ihr natürliches Selbstverständnis zu verlieren«.
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Der Weg verjüngt sich wieder, rechts und links tauchen die ersten, kleinen Felder auf, die das Dorf umgeben und auf denen uralte Maissorten wachsen. Durch den Regen erkenne ich den großen Felsen, auf dem wir die Abende verbracht haben. Manuel ist bereits außer Sicht. Als ich das kleine Haus erreiche, ist die Familie im Inneren versammelt. Der Ausbruch der Natur hat sie nicht sonderlich gerührt, man zündet ein Feuer an und kocht das Essen an diesem Abend einfach im Haus, anstelle wie sonst üblich, draußen, unter der Plane. Mir wird eine Decke über die Schultern gelegt, ein Glas Tee gereicht, und in aller Stille essen wir die mittags verlesenen Bohnen.
*Alle Namen geändert
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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