Blutiges Gepäck der Tigerstaaten
Eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt betreibt künstlerische Metaphernforschung
Im Wirtschaftsslang hat man sich daran gewöhnt, die Schwellenländer Südostasiens als »Tigerstaaten« zu bezeichnen. Dass in diesem Werbebegriff für attraktive Anlageregionen des globalen Kapitals auch eine gehörige Portion Selbstzuschreibung steckt, macht die Ausstellung »2 oder 3 Tiger« deutlich, die jetzt im Haus der Kulturen der Welt zu sehen ist.
Die Figur des Tigers spielt dabei eine bedeutende Rolle. An prominenter Stelle im Nationalmuseum Singapurs befindet sich das Gemälde »Unterbrochene Straßenmessung auf Singapore«, sagte HKW-Intendant Bernd Scherer bei der Presseführung durch die Ausstellung. Ein Tiger ist auf dem Bild zu sehen, der mitten hinein in eine Gruppe von Landvermessern aus Europa und ihren lokalen Helfern fährt. Erschreckt springen die Menschen in alle Richtungen davon. Das Messgerät fällt zu Boden. Die Natur, hier in Gestalt des Tigers, hat sich zumindest für einen Moment der kolonialistischen und kapitalistischen Inbesitznahme entzogen. Die Vermessung als Teil einer Wissens- und Herrschaftstechnik ist unterbrochen.
Das Gemälde stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Jüngere Bilder nehmen den Tiger nicht mehr als Gegner des kapitalistischen Fortschritts wahr, sondern als dessen Verkörperung. Bereits für den Koreakrieg (1950-1953) mobilisierte die südkoreanische Seite den Tiger als Symbol ganz Koreas und ließ Landkarten mit den Umrissen Koreas in der Gestalt eines Tigers publizieren. Der Einsatz südkoreanischer Einheiten im folgenden Vietnamkrieg wurde begleitet von Kartendarstellungen des Gegners Vietnam in der traditionellen Gestalt des Drachen.
Aufgetrieben hat diese Bilder der Künstler Heung-Soon Im. Er steuerte noch ein drittes Bild aus dieser Zeit bei: ein Foto, das koreanische Soldaten mit einem in Vietnam erlegten Tiger zeigt. Das Trophäenbild ist eine Weiterführung kolonialistischer Praktiken. In Korea war seinerzeit der Tiger fast ausgestorben. Beim kriegerischen Trip nach Vietnam konnten die koreanischen Militärs aber eine Safari veranstalten und sich nach dem Vorbild westlicher Jäger ins Bild setzen. Diese Gruppe inszeniert Heung-Soon in einer zweiten Arbeit auch eindrucksvoll als Videoskulptur. Auf ein Relief des Bildes werden mal weißes Licht, mal die Konturen der Personen projiziert. Aus den Lautsprecherboxen faucht der Tiger.
Nicht nur auf Tiger ist die Praxis beschränkt, Elemente der Natur für den ideologischen Gebrauch zu nutzen. Park Chan-Kyong, ebenfalls aus Korea, spürt der japanischen Kyoto-Schule nach. Dabei handelte es sich um eine philosophische Strömung, die westliche Denker wie Nietzsche und Meister Eckhart mit dem Buddhismus zu verbinden versuchte; aus ihr rekrutierten sich zahlreiche Kamikazepiloten des Zweiten Weltkriegs. Park integriert in seinen Videoschrein mit Botschaften der Kamikazeflieger auch eine Darstellung der sogenannten Selbstmordwasserfälle, der Kegon-Fälle. Sie wurden nach dem Suizid eines Philosophiestudenten im Jahr 1903 zur beliebten Destination Lebensmüder und spielten auch in der von Todessehnsucht geprägten Philosophie der Kyotoschule eine wichtige Rolle.
Auf die derzeit unangenehmen Seiten mancher Tigerstaaten weist Minouk Lims Videoinstallation »S.O.S. - Adoptive Dissensus« hin. Auf drei Leinwänden inszeniert sie eine nächtliche Flussfahrt durch Seoul. Man verfolgt ein umherirrendes Liebespaar, trifft auf demonstrierende Jugendliche und wird in das Narrativ eines Häftlings gesogen, der von den allgegenwärtigen Überwachungspraktiken erzählt.
Restbestände des erobernden Nationalismus fing James T. Hong ein, als er Touristengruppen aus China, Taiwan, Korea und Japan auf zwei umkämpfte Inseln im Ostchinesischen Meer begleitete. Die Touristengruppen performten dabei die territorialen Ansprüche ihrer jeweiligen Heimatländer.
Auf die verschiedenen Formen der Ausbeutung von Frauen weist der Filmessay »The Woman, The Orphan and The Tiger« von Jane Jin Kaisen und Guston Sondin-Kung hin. Frauen dreier Generationen erzählen darin ihre Geschichten: Koreanerinnen, die vom japanischen Militär während des Zweiten Weltkrieges zu Sexsklavinnen gemacht wurden, Prostituierte rund um die US-amerikanischen Stützpunkte in Südkorea und Frauen, die als Kinder zu Adoption in den Westen gegeben wurden und nun auf der Suche nach den Fragmenten ihrer Identität sind. »2 oder 3 Tiger« eröffnet damit einen Blick in komplexe und widersprüchliche Zusammenhänge. Auch der Begriff der Tigerstaaten erfährt eine Veränderung.
»2 oder 3 Tiger«, bis zum 3. Juli im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten
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