Im Strom nicht ertrunken
Sabine Bode zeichnet das Porträt einer jungen Jüdin in Zeiten der Naziherrschaft
Wer Ursula Krechels Buch »Landgericht« gelesen oder dessen (etwas unglückliche) Verfilmung im Fernsehen gesehen hat, muss sich bei der Lektüre von Sabine Bodes Roman »Das Mädchen im Strom« verwundert die Augen reiben: Das ist doch (fast) dieselbe Geschichte! Sogar die geografischen Topoi sind identisch: Mainz, Schanghai, Havanna, London ... Alles nur geklaut oder kongenial? Weder noch: Die jüdischen Schicksale während des Nazi-Terrors waren, soweit sie nicht in Auschwitz oder Treblinka endeten, von solch grauenhafter Alltäglichkeit, ja oft Besonderheitslosigkeit, dass sie sich in der Tat nicht selten bis aufs Haar glichen. Und es spielt schon eine nur noch untergeordnete Rolle, dass es hier um die Tochter eines jüdischen Geschäftsmannes, dort um einen jüdischen Juristen geht.
Gudrun erlebt als Kind mit, wie ihre Eltern sukzessive entrechtet werden, nach und nach alles verlieren und keinen Ausweg mehr kennen als den, das von ihrem Vater immerhin »geliebte Vaterland« zu verlassen. Das gelingt aber nur ihrem Bruder Ralph. Der Vater, Wilhelm Salomo, bringt sich um, Mutter Helene wird, was Gudrun aber erst nach dem Nazi-Spuk erfährt, in Treblinka ermordet.
Der Titel von Bodes Buch ist doppeldeutig zu verstehen: Das junge Mädchen schwamm im Rhein den Schleppkähnen nach, als erwachsene Frau befindet sie sich in einem Strom, der weitaus gefährlicher und todbringender ist als der reale Fluss. Aber sie hat immer wieder Glück, und es gelingt ihr, in den damals einzigen visumfreien Ort der Welt, nach Schanghai, zu gelangen und dort zu überleben. Und das, obwohl der Nazi-Arm sogar bis dorthin reichte und mit Hilfe der japanischen »Waffenbrüder« für die zahlreichen jüdischen Exilanten ein Ghetto eingerichtet wurde: »Ab Frühjahr 1944 waren die jüdischen Flüchtlinge endgültig eingesperrt. Sie durften das Ghetto nicht mehr verlassen ...« All das ist so authentisch geschrieben, dass der Verdacht entsteht, die Autorin habe hier keinen Roman verfasst, sondern eine tatsächliche Begebenheit dokumentiert.
Wie das Buch von Ursula Krechel endet auch Sabine Bodes Roman nicht mit der Befreiung von der Nazi-Herrschaft, sondern mit deren in die junge Bundesrepublik noch weit hineinragenden Tentakeln. Von einem früheren Nazi wird die Protagonistin sogar um ein Leumundszeugnis gebeten. Ihm wird die Tötung von mindestens 112 Menschen vorgeworfen. Er hat sich in seinem Selbstverständnis - natürlich! - mit keinerlei Schuld beladen und wird tatsächlich am Ende freigesprochen.
Die ganze Geschichte ist geradlinig und schnörkellos geschrieben. Bisweilen hat man den Eindruck, es mit einem Jugendbuch zu tun zu haben, obwohl es nicht als ein solches ausgewiesen ist. Was keineswegs abwertend gemeint sein soll, denn wenn man sich schon dieser Kategorisierung bedient, dann muss hinzugefügt werden: ein ausgezeichnetes, erstklassiges Jugendbuch!
Sabine Bode: Das Mädchen im Strom. Roman. Klett-Cotta, 394 S., geb., 20 €.
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