Hitler in der Berliner U-Bahn
Chloe Aridjis ließ sich in ihrem »Buch der Wolken« vom magischen Realismus inspirieren
Ein Berlin-Roman. Nicht ganz neu. Das englische Original erschien bereits 2009 und wurde jetzt von Klaus Bonn sehr schön ins Deutsche übersetzt. Schon wieder Berlin, mag man denken. Doch die 1971 in New York geborene und in Mexiko aufgewachsene Chloe Aridjis schreibt frisch und lebendig. Sie selbst lebte von 2003 bis 2008 in der Stadt, »die ihre eigenen verschiedenartigen Moden« aufspürt und »jede Menge Möglichkeiten durchkämmt, um die richtige Passform zu finden«.
Inspiriert vom »magischen Realismus« ihrer lateinamerikanischen Heimat und den Alltagsbeschreibungen literarischer Flaneure fügt sie in ihrem Buch der Wolken Traumsequenzen, Reflexionen und Beobachtungen ihres Alter Ego zu einem verschwommen-klaren Stadtpanorama, das man gern liest. »Außer Spaziergängen, Newslettern und dem einen oder anderen Kuss war die einzige Beschäftigung, der ich neben der Arbeit nachging, das Herumfahren in der Stadt ... Jede Fahrt, besonders die mit der S-Bahn, war wie eine Exkursion, die mir die Gedanken glättete, eine regelmäßige örtliche Betäubung, und ich unternahm sie so oft wie möglich.«
Tatiana heißt die junge Jüdin, die es nach einem ersten Besuch mit Eltern und Geschwistern 1986 wieder nach Berlin verschlägt, wo sie fünf Jahre bleibt. Sie wohnt in verschiedenen Stadtteilen, jobbt hier und da, und ist meist allein. Ihr letztes Domizil ist irgendwo in Prenzlauer Berg, ihr letzter Arbeitgeber ein alter Charlottenburger Professor namens Friedrich Weiss, für den sie historische Berlinepisoden transkribiert. Weiss schreibt gegen das gesellschaftliche Vergessen an. Ein hoffnungsloses Unterfangen in einer Stadt, in der sich Historie und Präsenz Schicht um Schicht überlagern: »Können Sie sich vorstellen, dass jemand ein Café auf dem Gelände der Topographie des Terrors eröffnet, mit einer vor sich hin dampfenden Espresso-Maschine in einer der Folterzellen, im Hauptquartier von Gestapo und SS? ... Alles hier verändert sich fortwährend, aber man darf nicht vergessen, dass alles Teil eines langen, zusammenhängenden Ganzen ist.«
In Aridjis Roman tummeln sich viele dieser wirklich-unwirklichen Gestalten: Die »Einfältige«, eine Bettlerin am Alex, Jonas Krantz, ein Meteorologe und Wolkenkundler aus der Allee der Kosmonauten in Marzahn, Sonja, die nur dann Tatianas Freundin sein will, wenn diese ihre Fitness-Option zu teilen bereit ist. Der jungen Mexikanerin scheinen Beziehungen zu anderen Menschen jedoch wenig zu bedeuten. Dabei ist sie weder saturiert noch gleichgültig. Sie lässt sich treiben. Schlafen kann sie ohnehin nicht. »Seit meiner Ankunft in Berlin war ich zu einer Fachfrau in Sachen verlorener Zeit geworden. Es war unmöglich, über all die Stunden Rechenschaft abzulegen ... Die Stadt hatte ihren eigenen chronometrischen Lauf.«
Tatiana ist Existenzialistin - kein Wunder, dass die französische Version des Romans, ihr Livre des nuages, in Frankreich begeistert aufgenommen wurde - ohne dass dies explizit konstatiert werden müsste. Sie ist Migrantin, jung und ziellos. Ihre Gegenwart ist Vergangenheit und Zukunft zugleich. Sie meint Hitler in der Gestalt einer greisen Frau in der U-Bahn zu sehen, verirrt sich in einem Gestapo-Bunker, gerät mit Neonazis in Lichtenberg aneinander. Sie tanzt sich durch die Clubs der Jahre nach dem Mauerfall und befragt einen BVG-Betriebsleiter zum Thema Geisterbahnhöfe.
Tatiana ist die poetische Verkörperung von Neugier und Abgeklärtheit. Ein Double des Lebens selbst. Erstaunlich nah und fremd zugleich. Wie die Stadt, in der sie vorübergehend lebt, und die sie genauso abrupt verlässt, wie sie einst ankam. Chloe Aridjis »Buch der Wolken« ist eher nachdrückliche Einladung als laute Aufforderung, den Blick auf das zu lenken, was war, was ist und was sein könnte.
Chloe Aridjis: Buch der Wolken. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Bonn. Edition Nautilus. 205 S., geb., 19,90 €.
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