Im ewigen Zwang gefangen
Anton Tschechow und noch viel mehr: Das Berliner Theater Ramba-Zamba zeigt die Tanzperformance »Schwestern«
Das Thema lässt sie nicht los. Ende 2014 inszenierte Frank Krug mit dem Ensembletrio Nele Winkler, Rita Seredßus und Juliana Götze vom Theater Ramba-Zamba in den Sophiensælen »Die drei Schwestern« von Tschechow. In der angestammten Spielstätte in der Kulturbrauerei (Prenzlauer Berg) hat sich das Ramba-Zamba unter der Regie von Jacob Höhne dieses Werk jetzt erneut vorgenommen - mit verändertem Titel, neuen Anleihen und jenseits des Schauspiels: »Schwestern« ist eine Tanzperformance, kaum länger als eine Stunde, aber so intensiv und assoziationsreich, wie es selbst von diesem Inklusionstheater selten zu sehen ist.
Juliana Götze spielt wieder eines der Geschwister Olga, Mascha und Irina Prosorow, die sich nach einem besseren Leben sehnen. Mit Hieu Pham und Sara Lu begibt sich Götze auf die Suche nach Freiheit, Anerkennung und Liebe. Bei Tschechow ist es die aus ewigen sozialen Zwängen sich ergebende Abhängigkeit der Schwestern, die eine je eigene freie Entfaltung verhindert.
Genau das symbolisiert die beeindruckend konstruierte Bühne. Der Boden ist eine Spiegelfläche, die dem erhöht um dieses Setting herum gruppierten Publikum verschiedene Sichtweisen auf das gleiche Bild bietet. In der Mitte zeigen die Performer ein behutsam austariertes Spiel mit den Erwartungen und den Sehgewohnheiten der Zuschauer. Zu Beginn liegen die Schauspielerinnen auf der kalten Fläche ineinander gewickelt wie ein einziger, unzertrennlicher Körper. Langsam, ganz langsam krabbeln die Frauen auseinander. Sie bleiben sich trotzdem bedingungslos ausgeliefert, so als hingen sie an unsichtbaren Fäden. Sind sie einander feindlich gesinnt? Wollen sie sich loswerden oder miteinander verschmelzen? Wer oder was hindert sie nur daran, zu tun und zu lassen, was sie wollen? Ihr Tanz ohne jeden Einsatz mündlicher Sprache lässt in diesem irritierenden Bühnenbild solche Gedankenketten entstehen. Denn die drei Schwestern kriechen und keuchen und lauern und warten, sich dabei nie aus dem leidenden Blick verlierend.
Am Rand sitzt Sven Hakenes in gelber Zeremonienmeisterkleidung auf einem Stuhl. Er liest und kritzelt ständig in den zahlreichen gelben Reclam-Heftchen herum, die den Stücktext enthalten. Er zerreißt und zerknüllt sie und zählt dem tanzenden Trio mehrmals lautstark von eins bis acht entgegen. Wer die literarische Vorlage kennt, kann in ihm den toten Vater der Schwestern erkennen, der die Sehnsucht seiner Töchter nach ihrer Heimatstadt Moskau aus dem Jenseits zu dirigieren versucht, damit aber einfach nicht zu ihnen durchdringt. Wie sie bedrohlich aus der Ecke hervorlugt und die Titelheldinnen aus der Ferne beeinflussen will, funktioniert die Figur aber auch als gruselige, an Prosa von Franz Kafka oder Edgar Allan Poe gemahnende Stimme der paternalistischen Vernunft, die den Schwestern so apodiktisch wie gut gemeint einen berühmten Satz des hoffenden Realisten Tschechow schenkt: »Bald werden wir wissen, warum wir leben und warum das so weh tut.«
Dass sich Sinnen und Trachten, Aufbruch und Scheitern, Zuversicht und Niedergeworfensein so komprimiert, eindringlich, leidenschaftlich auf die Bühne bringen lassen, das dürfte lange nicht mehr auf diese anregende Art demonstriert worden sein. Weil gerade das Theater Ramba-Zamba diesen Clou erdacht hat, zwingt die Inszenierung jeden, die Perspektive von Menschen mit Down-Syndrom einzunehmen, um die auch auf herkömmlichen Bühnen oft mithilfe dieses Tschechow-Stoffs verhandelten Probleme neu auszuleuchten. Es ist eben etwas völlig anderes, ob eine junge Frau mit Prädikatsexamen den Drang nach Autonomie und Selbstverwirklichung in piefigen Verhältnissen verspürt oder ob dies ein Mensch tut, der aufgrund seiner besonderen Merkmale in dieser sich so aufgeklärt gebenden Gesellschaft noch immer allzu oft in brutaler Fehleinschätzung als »krank« missverstanden wird.
Natürlich liegt darin auch die Kehrseite einer solchen Form der Kunstproduktion. Schließlich ist es ein altes Problem, doch bleibt es immer neu: Inklusionstheater kann dem ungeschützten Begaffen angeblich Minderbemittelter nahekommen, während dessen die Spielenden als Sonderlinge ausgestellt erscheinen.
Das Theater Ramba-Zamba entgeht dieser Gefahr, indem es die narrative Struktur des jeweiligen Werkes sprengt und dem Ensemble außergewöhnlich viel Raum gibt, die Inszenierungen um eigene Ideen, Träume, Wünsche und Erfahrungen zu ergänzen. Dieser schlaglichtartige, durch Worte kaum fassbare Zugriff auf die »Schwestern« ist dafür nur der jüngste Beweis.
Nächste Vorstellungen: 15. und 16. Juni
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