Der Werkzeugkasten von Old Charly
Mathias Greffrath & Friends haben »Das Kapital« von Karl Marx für das 21. Jahrhundert reloaded
Im Herbst jährt sich das Erscheinen von Marxens »Kapital« zum 150. Mal. Sie haben Ihr »Kapital«-Buch schon im Frühjahr auf den Markt gebracht. Wollten Sie mit Ihren Autoren und Autorinnen unbedingt die ersten zum Jubiläum sein, quasi geistige Pflöcke einschlagen?
Ja und nein. Natürlich kam das Jubiläum uns entgegen, und wir waren vielleicht mit »RE: Das Kapital« wirklich am nächsten dran, denn im April 1867 fuhr Karl Marx von London nach Hamburg. Es war eine stürmische Überfahrt. Nachdem er das Manuskript bei seinem Verleger Otto Meißner abgeliefert hatte und nach Hannover weiterfuhr, schrieb er in einem Brief an seinen Freund, den Revolutionär Johann Philipp Becker: »Mein Buch ist das furchtbarste Geschoß, das den Bürgern noch an den Kopf geschleudert worden ist.«
Aber natürlich haben wir unser Buch, das auf einer Sendereihe des Deutschlandfunks beruht, nicht nur wegen des Jubiläums herausgebracht. Wir meinen, dass man aus dem »Kapital« immer noch etwas lernen kann. Auch wenn man die drei Bände nicht von der ersten bis zur letzten Seite liest, wie wir das in den 1960er Jahren taten. Einige versanken derart tief in diesem Buch, dass sie nie wieder daraus aufgetaucht sind. Das muss nicht sein. Aber die Marxschen Kategorien und seine Herangehensweise in der Analyse der Gesellschaft seiner Zeit sagen immer noch viel über die Gesellschaft aus, in der wir leben. Die Frage ist nur, ob wir auch etwas über die Zukunft erfahren.
Mathias Greffrath, Jahrgang 1945, studierte an der FU Berlin Soziologie, Geschichte und Psychologie und war dort kurzzeitig als Lehrbeauftragter tätig. 1991 bis 1994 leitete er als Chefredakteur die DDR-legendäre Zeitschrift »Wochenpost«; seitdem arbeitet er als freier Journalist für die ARD sowie die »Süddeutsche Zeitung« und »Die Zeit«. Er ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Im Frühjahr gab er das Buch »RE. Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert« heraus (Antje Kunstmann Verlag, 200 S., geb., 22 €). Mit dem Mathias Greffrath sprach Karlen Vesper.
Auf dem Buchcover sind zentrale Begriffe der Marxschen Theorie zu lesen, die im Band von namhaften Wissenschaftlern und Aktivisten diskutiert werden. Hat sich jeder Autor einen ihm genehmen aus dem Werkzeugkasten von Old Charly klauben dürfen?
Wir wollten keine Marxologie betreiben, keine streng wissenschaftlichen und innermarxistischen Auseinandersetzungen ausfechten. Da wird der Interessierte in Universitätsbibliotheken fündig. Die Essays in diesem Band verstehen sich als Annäherungen an Marx, als Versuche des Umgangs mit ihm heute. Es stand jedem Autor, jeder Autorin frei, welchen Begriff er oder sie auswählt: Einige tauchen fast in jedem Aufsatz auf, zum Beispiel der tendenzielle Fall der Profitrate. Das hat seinen Grund in der Krise, in der wir gerade stecken.
Respekt, Sie selbst wagten sich an den Hardcore: den Mehrwert.
Weil der Mehrwert zentraler Bestandteil der Arbeitswerttheorie von Marx ist, die von der so genannten bürgerlichen Ökonomie oder Mainstream-Ökonomie rundweg abgelehnt und als Metaphysik diffamiert wird. Dabei ist die Idee, dass der Wert von Waren nicht nur durch die hierfür benötigten Rohstoffe und Maschinen, sondern durch die Arbeit bestimmt wird, die in diesen steckt und ihnen zugesetzt wird , nicht eine fixe Eingebung von Marx gewesen, das wussten schon seine bürgerlichen Vorläufer, die britischen klassischen Nationalökonomen Adam Smith und David Ricardo.
Marxens Erfindung war, dass der Mehrwert des Kapitals sich dem Arbeiter verdankt, der seine Arbeitskraft verkauft, verkaufen muss. Insofern ist bei Marx - und das ist das Große und Neue - die analytische Kategorie zugleich eine moralische und politische. Aber der Mehrwert ist keine metaphysische Größe, auch wenn er nur gesamtgesellschaftlich messbar ist - und heute in jeder volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als Nettosozialprodukt und auch als Arbeitsproduktivität auftaucht. Der Wissenschaft grundlegende makroökonomische Kategorien gegeben zu haben, ist das Verdienst von Marx, was übrigens auch der einzige Autor in unserem Buch hervorhebt, der nicht durch Marxens Schule ging.
Mein Stichwort: Wie verirrte sich Hans-Werner Sinn in Ihr Buch, in dem u. a. Sahra Wagenknecht, Elmar Altvater, Robert Misik, David Harvey, Étienne Balibar schreiben?
Ich traf Hans-Werner Sinn Ende vergangenen Jahres zufällig in der Lobby des ARD-Hauptstadtstudios. Tags zuvor hatte ich - auch eher zufällig - einen Artikel von ihm im »Handelsblatt« über die »säkulare Stagnation« gelesen, in dem er sich auf das Marxsche Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate berief. Wie kommt Sinn dazu, fragte ich mich, recherchierte im Internet und stellte fest, dass er in den 1980er Jahren eine umfängliche Ausarbeitung zum tendenziellen Fall der Profitrate veröffentlicht hat. Ich sprach ihn also an, ob er darüber nicht auch für unser Buch mal wieder sinnieren möchte. Er fragte: »Bis wann?« Es war der 1. Dezember. Ich sagte: »Bis Weihnachten.« - »Nee, das geht nun gar nicht, aber wenn Sie mir bis Silvester Zeit geben, dann mache ich es.« Und am 31. Dezember um 12.40 Uhr bekam ich per E-Mail einen perfekten Aufsatz von Hans-Werner Sinn. Alle meine linken Freunde waren nicht so pünktlich. Ich musste sie manchmal etwas antreiben.
Typisch links. Deshalb werden auch Revolutionen verschlafen.
Ja, vielleicht nicht nur wegen der Bahnsteigkarte. Interessant aber ist, das Sinn und Wagenknecht in der Analyse gar nicht so weit auseinander liegen. Hinsichtlich der Folgerungen und Konsequenzen marschieren sie dann natürlich in sehr verschiedene Richtungen. Und Sinn behauptet auch gleich anderen konservativen Ökonomen, Marx sei als Preistheoretiker eine völlige Null gewesen. Es war aber nie die Absicht von Marx, Marktpreise zu berechnen. Aber dass er als Makroökonom zu den ganz, ganz Großen gehört, bestreitet inzwischen auch kein ernst zu nehmender Wirtschaftswissenschaftler mehr. Ich vermute mal, der nachgereichte Adelsschlag aus der etablierten Zunft würde dem auf dem Londoner Highgate-Friedhof Schlummernden gut tun.
In Ihrem Vorwort schreiben Sie, »Das Kapital« lese sich wie ein Roman. Darunter verstehe ich indes etwas anderes.
Nun ja, Karl Marx war wie Charles Darwin und Sigmund Freud ein wissenschaftlicher Revolutionär, also ein Revolutionär in der Wissenschaft, und wie die beiden auch ein höchst begabter, polemischer und brillant formulierender Autor. Es macht - abgesehen von den ersten drei Kapiteln - wirklich sehr viel Freude, das »Kapital« zu lesen. Weil es durchsetzt ist mit Bösartigkeiten, Anekdoten, Erzählungen, Ironie und Esprit. Marx selbst hat übrigens einigen seiner Freunde empfohlen: »Fangt mit dem vierten Kapitel an.« Und dem Arzt Louis Kugelmann und dessen Frau riet er, im achten Kapitel einzusteigen, also im historischen Teil, bevor sie sich an die Lektüre der dialektisch-hegelianischen ersten drei Kapitel machen.
Sehr interessant ist übrigens in unserem Buch das Essay von John Holloway über den ersten Satz im »Kapital«. Holloway ist Politologieprofessor an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko; sein bekanntestes Buch heißt »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen«. Er schrieb 30 Seiten über diesen einen ersten Satz: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung.« Ja, denken alle, es fängt mit der Ware an. Aber nein: Was ist das grammatische Subjekt dieses Satzes? Der Reichtum. Das heißt, schon im ersten Satz machte Marx eine Differenz zwischen Reichtum und Warengesellschaft aus. Diese Differenz wird dann sehr kompliziert auf den folgenden 150 Seiten entwickelt.
Also doch kein Roman?
Marx war kein Moralist, er moralisierte nie. Er sagt, der Mensch handelt unter bestimmten Verhältnissen. Auch der Kapitalist. Der kann ein herzensguter Mensch sein, ein Mäzen und weiß der Teufel was. Aber die Verhältnisse zwingen ihn, wie es dann auch bei Brecht heißt, so zu handeln, wie er eben handelt. Und wie ein Roman hat auch Marxens »Kapital« einen Helden. Das handelnde Subjekt sind nämlich eben nicht die Kapitalisten, sondern das Kapital, also »Geld und Wert in Bewegung«, wie es David Harvey, der anglo-amerikanische Marxist, Humangeograf und Sozialtheoretiker in seinem Aufsatz prägnant formuliert.
Das große Kapital ist ein Anti-Held.
Gut, ein Anti-Held, aber auf weiten Strecken ein entscheidender Akteur. Alle strecken sich nach der Decke, die das Kapital vorgibt. Der Kapitalist steht in Konkurrenz, muss deshalb den Preis der Arbeitskraft, den Lohn, drücken, um nicht unterzugehen. Der Arbeiter, der frühkapitalistische, will nicht verhungern, also muss er seinen Lohn, den Preis der Arbeitskraft, hochdrücken. Das heißt, der Klassenkampf ist notwendig eingebaut als Konflikt in die Struktur des Kapitals. Und wenn das Proletariat sich, um im Bild zu bleiben, nicht zum kollektiven »Helden« entwickelt und bildet, wiederholt sich, mit Marx, auf ewig »die alte Scheiße«. Im »Kapital« kommt allerdings die Revolution eigentlich nicht vor. Es ist insofern eine Struktur- oder Systemtheorie des Kapitalismus, aber dabei durchaus historisch und parteilich: eine abstrakte Theorie, die zugleich viele leidvolle Geschichten enthält und weit in die Geschichte zurückgeht.
Worüber schreibt der französische Philosoph Étienne Balibar?
Er nahm sich die berühmten Sätze am Ende des ersten Bandes des »Kapitals« vor, wo es um die Expropriation der Expropriateure geht. Im Grunde genommen, so seziert Balibar philologisch, gebe es drei Ausgänge aus dem kapitalistischen System. Erstens den leninistischen, also die Revolution; die Enteigner werden enteignet: Weg mit ihnen, wir bauen den Sozialismus auf. Zweitens wäre da die radikal-sozialdemokratische Variante, die soziale Marktwirtschaft oder der Ordoliberalismus, den Sahra Wagenknecht hochhält: der auf Dauer gestellte Kompromiss um die Anteile am Wohlstand. Und es gibt als dritten möglichen Ausgang - und das findet man nur in den nachgelassenen Manuskripten von Marx - durchaus auch die Perspektive eines total werdenden Kapitalismus, in dem nicht nur die Arbeitsverhältnisse und die Politik, sondern »die Seelen der Menschen real subsumiert sind«, also kapitalisiert sind.
Was bedeutet das?
Das Leistungs- und das Konsumprinzip ist von den Menschen derart verinnerlicht worden, dass der Kapitalismus nicht mehr in Frage gestellt wird, wir ihn auf Dauer am Halse haben, dass wir uns gar nichts anderes mehr vorstellen können.
Das können wir nicht wollen.
Nein, aber diese düstere Möglichkeit ist gegeben. An anderer Stelle schreibt der Aufklärer Marx: »Das Ganze zu begreifen ist der Weg zu seiner Auflösung.« Da ist er einen Tick zu optimistisch, denn das Verstehen öffnet den Weg, ist aber noch nicht die Auflösung, wie wir es in den 1960er Jahren glaubten. Nach der niedergeschlagenen 1848er Revolution munterte Marx die Arbeiter auf: »Ihr habt eine lange Strecke vor euch, ihr müsst euch organisieren, ihr müsst euch bilden, ihr müsst euch organisieren. Und wenn ihr das nicht tut, wenn ihr euch nicht organisiert und wenn ihr euch nicht wehrt, dann werdet ihr enden wie eine unterschiedslose Masse armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft.« Das ist leider auch eine Möglichkeit, die muss man immer im Kopf haben, denn sie kann motivieren.
Es gibt noch eine vierte Interpretationsmöglichkeit respektive einen vierten Ausgang, entworfen von den Transformationsforschern Dieter Klein, Michael Brie und Rolf Reißig: evolutionär-revolutionärer Übergang in eine human gerechte, ökologisch nachhaltige Gesellschaft. Glauben Sie an diese Möglichkeit?
Es erinnert ein wenig an die alten Sozialdemokraten Eduard Bernstein und Viktor Agartz und die Post-Weltkrieg-zwei-Sozialisten. Oder an den dritten Weg in Jugoslawien, den genossenschaftlichen. Genossenschaften waren für Marx ganz wichtig. Nicht, weil man mit Genossenschaften den Kapitalismus überwinden kann, sondern weil sie schon eine Stufe der Vergesellschaftung darstellen. Und zum anderen sind ja die großen Monopole und die organisierende Kraft der Banken eine Vorstufe des Sozialismus, wenn auch unter kapitalistischen, also destruktiven Bedingungen. Darauf verwies Rudolf Hilferding in seinen Analysen zum Finanzkapital, und Balibar greift das heute wieder auf.
Was wäre für Sie der wünschenswerteste Ausgang aus dem unbarmherzigen Kapitalismus?
In den 1970er Jahren sprach man von systemüberwindenden Reformen. Die wären mir am liebsten. Und das kommt dem, was Klein und den anderen vorschwebt, wohl am nächsten: offensive Lohnpolitik, offensive Infrastrukturpolitik, offensive Bildungspolitik, offensive Wohnungsbaupolitik, offensive Umweltpolitik etc. Mit solchen Angriffen auf die Kapitallogik treibt man das System an seine Grenzen. Und dann wird sich zeigen, wer der Stärkere ist. Bei Marx heißt das: »In letzter Instanz löst sich die Frage auf im Kräfteverhältnis der Kämpfenden.« Die Geschichte ist offen. Sicher ist nur, mit der Sozialdemokratie, wie sie sich heute präsentiert, wird sich nichts ändern.
Weil die Sozialdemokratie selbst sich nicht ändert. Der Schulz-Faktor war eine Fata Morgana.
Wenn es eines Tages - ich greife da weit voraus, fürchte ich - einen Vereinigungsparteitag der drei sozialdemokratischen Parteien, SPD, LINKE, Grüne, geben wird, verändert sich die Sozialdemokratie möglicherweise. Und wenn die nächste Krise schlimmer ist als die vorherige, wird es eine neue Art von Radikalität geben, von der man aber nicht weiß, ob sie nach rechts oder links geht.
Und zum Kanzlerkandidaten Martin Schulz: Die Chancen der SPD hängen davon ab, ober er es noch will und schafft, konkret zu werden, nicht nur blumig über Gerechtigkeit und Würde zu reden. Es gibt genug Anlässe.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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