Die Mühen der Ebene

Das flache Abbild der Erde ist immer ein Kompromiss - und bisweilen auch ein Spagat zwischen Ideologie und Kommerz

  • Bernd Schröder
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Frühjahr 2017 machten Meldungen die Runde, nach denen im Bostoner Schuldistrikt die auf der altehrwürdigen Mercator-Projektion basierenden Weltkarten ersetzt würden - durch Karten, die auf der Gall-Peters-Projektion beruhen. Die soll nun zum neuen Standard werden. Die Begründung: Die Mercator-Projektion verzerre die relativen Größen und Positionen der Kontinente, wodurch Europa und Nordamerika zu absurden Größen anschwöllen und gleichzeitig Südamerika und Afrika schrumpften. Entwicklungsländer würden so abgewertet, während die entwickelten Nationen in ihrer Bedeutung überbetont würden.

Mit der Bostoner Aktion soll der Lehrplan an öffentlichen Schulen entkolonialisiert werden. Diese Argumentation ist nicht neu. Mit der Frage nach einer politisch korrekten Kartenprojektion knüpfen die Verantwortlichen an eine kontrovers geführte Debatte der 1970er und 1980er Jahre an. Die Pädagogen versprechen sich davon, dass die der Mercator-Karte innewohnende historische und gesellschaftspolitische Botschaft umgeschrieben wird und der Übertreibung der Größe der imperialistischen Mächte ein Ende gesetzt wird. Von der nun bemühten Peters-Projektion allerdings hielten schon vor einigen Jahrzehnten zumindest viele Kartografen wenig.

Der deutsche Historiker Arno Peters kam 1974 mit seiner Projektion an die Öffentlichkeit. Die war keine Neuheit, sondern eine Wiederbelebung der 1855 vom Schotten James Gall publizierten und dann in Vergessenheit geratenen Projektion. Peters wollte den Kontinenten ihre »wahre Dimension« zurückgeben und dadurch einer »eurozentristischen Denkweise« entgegenwirken, für die in seinen Augen die Mercator-Projektion stand: angelegt zur Sicherung der Macht der europäischen Kolonialmächte.

Die Peters-Projektion liefert flächen-, lage- und achsentreue Darstellungen: Alle Flächen finden sich im gleichen Maßstab wieder, Orte gleicher Breite bzw. Länge liegen auf waagerechten bzw. senkrechten Linien. Die Darstellung und insbesondere die Kampagnen von Peters trafen jedoch auf Widerstand innerhalb der Kartografen-Gilde. Deren Urteil: in kartografischer Hinsicht wenig brauchbar. Die Peters-Projektion ist weder längen-, form- noch winkeltreu. Die 8000 Kilometer der Nord-Süd-Ausdehnung Afrikas werden beispielsweise auf 11 000 Kilometer gestreckt. Regionen in Polnähe erscheinen in dieser Projektion dagegen bis zur Unkenntlichkeit flach gepresst und in Ost-West-Richtung auseinandergezogen. Auch nur annähernd richtige Entfernungsmessungen sind so unmöglich.

Ironischerweise erscheinen gerade die Industrieländer der gemäßigten Breiten in ihrer Darstellung am naturgetreuesten, im Gegensatz zu den Entwicklungsländern, denen mit Peters’ Karte eigentlich Gerechtigkeit widerfahren sollte und die stattdessen stark deformiert abgebildet werden. Die um Peters gescharten Befürworter hatten noch versucht, gerade diesen Sachverhalt als Pluspunkt in die Diskussion einzubringen: Die Projektion Mercators sei zwar vom Äquator bis etwa auf die Höhe von Tripolis genauer, doch von dort an bis zum Nordpol mache die Peters-Projektion in puncto kleinerer Längenverzerrung das Rennen. Man ließ dabei außer Acht, dass die Mercator-Projektion auch vom Äquator bis zum Kap der Guten Hoffnung verzerrungsfreier ist - und damit für nahezu ganz Afrika. Darüber hinaus liefert sie nach neueren Daten zur Verteilung der Bevölkerung über die Breitengrade des Planeten einer Mehrheit der Erdbewohner das unverzerrtere Bild.

Peters Argument, dass seine Karte ärmeren Ländern ihre wahren Proportionen zurückgeben würde, führte zu ihrer Verbreitung in schulischen, religiösen und sozialen Einrichtungen sowie in der Öffentlichkeitsarbeit von Hilfsorganisationen. Nach eigenen Angaben hatte Peters bis Mitte der 1980er Jahre 15 Millionen Karten verkauft. Es war die gewöhnungsbedürftige Verzerrung der vertrauten Formen der Kontinente, die letztendlich dafür sorgte, dass sich Peters Karte nicht durchsetzen konnte, auch wenn sie hin und wieder zu sehen ist.

Seit Jahrhunderten hatten sich Mathematiker bemüht, Punkte auf einer gekrümmten Kugeloberfläche in die nichtgekrümmte Ebene zu übertragen, und zwar so, dass Entfernungen und Richtungen von den so entstehenden Karten abgelesen werden konnten und dabei gleichzeitig die Flächenverhältnisse gewahrt blieben.

1775 hatte Leonard Euler bewiesen, dass es keine verzerrungsfreie Abbildung der Kugeloberfläche in der Ebene geben kann, und 1827 hatte Carl Friedrich Gauß in seinem Theorema Egregium gezeigt, dass es prinzipiell unmöglich ist, Karten der Erdoberfläche zu erstellen, die gleichzeitig längen-, flächen- und winkeltreu sind. Noch heute gilt: Der Zweck der Karte bestimmt die Wahl der Projektion, die, wie auch geartet, immer ein Kompromiss sein wird.

Mercators Projektion ist winkeltreu - dadurch kommt es zu einer flächenmäßigen Übertreibung der äquatorferneren Regionen. Nordamerika und Europa erscheinen größer als Südamerika und Afrika, und Grönland sieht ungefähr so aus, als hätte es die Größe Afrikas, obwohl es tatsächlich etwa 14-mal kleiner ist. Mercator war sich darüber im Klaren: Seine Projektion war zur Navigation in der Seefahrt bestimmt. Um deren praktische Erfordernisse wusste er aus erster Hand. Zunächst hatte er navigationstaugliche Globen zur Verwendung an Bord von Überseeschiffen konstruiert, doch die zerbrechlichen Kunstwerke waren für den täglichen Gebrauch auf den Weltmeeren unpraktisch und zu teuer. Seine Kartenprojektion schließlich kam einer Revolution gleich: Auf ihr ließen sich erstmals Routen mit festem Kompasskurs als Geraden eintragen. In seinen geografischen Kartenwerken, wie dem 1595 ein Jahr nach seinem Tod veröffentlichten Atlas, spielte sie hingegen keine Rolle.

Die Kartografie hat andere Projektionen in ihrem Arsenal, die dem vorgebrachten Ansinnen von Peters entgegenkommen und gleichzeitig die wahren Flächenverhältnisse äquatornaher Gegenden ästhetisch ansprechend berücksichtigen. Wie die flächentreuen Projektionen von Eckert zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Oder die Mollweide-Projektion von 1805, die die Erdoberfläche flächentreu auf einer Ellipse darstellt, auf Kosten von Verzerrungen bei Formen und Winkeln, die sich mit der Entfernung von Äquator und Nullmeridian einstellen. Vermittelnde Entwürfe versuchen, die den verschiedenen Projektionen innewohnenden Fehler auszutarieren, um so zu einer annähernd richtigen Darstellung der Erdform zu kommen, wie die Projektionen von Wagner oder Robinson. Die Winkel-Tripel-Projektion von 1921 gilt als gelungener Kompromiss zwischen Flächen- und Winkeltreue. Sie gehört heute zu den am häufigsten verwendeten Projektionen.

Einigen Kritikern geht die heutige Dominanz mathematischer Formalismen jedoch zu weit. Zwar hätte deren Einzug die Kartografie erst zur Wissenschaft gemacht und ihr gleichzeitig Effizienz verliehen - auf Kosten ihrer Ausdruckskraft und ihrer Originalität. Gleichzeitig verschleiere die vorgeschobene Wissenschaftlichkeit genormter mathematischer Projektionsvorschriften die den Karten eingewobene politische und kulturelle Agenda ihrer Auftraggeber. Seit jeher sind Landkarten Werkzeuge der Macht - auch in einer Gegenwart, in der man die Welt zunehmend als Ansammlung von raumbezogenen Daten begreift und als solche digital erfasst, fast gänzlich ohne das Zutun von Kartografen im klassischen Sinne.

Eine Erlösung aus den festgefahrenen Strukturen erhoffen sich die Kritiker aus Beiträgen der Kunst oder aus den ungewohnten Perspektiven nichteuropäischer Kartenmacher. Wie der von Hajime Narukawa. Die 2009 vorgestellte AuthaGraph-Karte des Architekten und Produktdesigners hat es mittlerweile in japanische Schulbücher geschafft.

Auch Narukawa hat sich eine Geschichte zurechtgelegt: Seiner Meinung nach ist die Verzerrung der Polregionen in der Mercator-Projektion unzeitgemäß, denn gerade diese Gegenden seien politisch und wirtschaftlich äußerst wichtig, gerade in der Epoche des Klimawandels. Für seine Projektion ließ er sich von Milchtüten inspirieren - und von Buckminster Fullers Dymaxion-Karte, deren Projektion sich zu einem simplen Globus zusammenfalten lässt, beim Ausklappen des zugrunde liegenden Polyeders jedoch Ozeane produziert, die durch große Lücken unterbrochen sind.

Kartografen freilich rümpfen die Nase, allein der Anblick von Narukawas Südamerika löst bei ihnen Zustände aus, ebenso die Behauptung, dass die Karte die genaueste sein soll, die es bisher gibt. Narukawas Motivation ist nicht ausschließlich eine wissenschaftliche - er will über geometrische Meditationen neue Denkräume eröffnen. Doch seine Sicht der Welt verdankt ihren schnellen Ruhm vor allem einem Umstand: geschicktem Marketing.

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