»Natürlich ist Vollbeschäftigung möglich«
Stephan Schulmeister über sinnloses Leid durch Sparpolitik, Wachstum in China und alternative Politik in der EU
Herr Schulmeister, zur G20 gehören so unterschiedliche Länder wie USA und Mexiko, Deutschland und China. Die Regierungschefs dieser Länder verfolgen nach eigenem Bekunden ein gemeinsames Ziel: Sie streben ein ausgewogenes Wachstum an, um den Menschen bessere Lebensbedingungen zu bieten. Ist das mehr als eine hohle Phrase?
Natürlich wollen die Eliten auf der Welt mehr Wachstum und weniger Armut. Aber das sind Wünsche ans Christkind. Es gibt keinen Konsens, wie nachhaltiges Wachstum erreicht werden soll. Viele Regierungschefs haben nicht einmal eine Idee, wie sie Wachstum fördern könnten.
Was verbindet dann diese Gruppe der politisch Mächtigen?
Die Staats- und Regierungschefs der G20 haben sich zum ersten Mal 2008 getroffen, damals herrschte Panik, wegen der globalen Finanzkrise. Das gemeinsame Interesse der G20 war es, alles zu tun, um eine Ausweitung der Krise zu verhindern. Die Eliten fürchteten zu Recht: Wenn es zu einer Totalentwertung des Finanzkapitals kommt, wenn die Aktienkurse weiter abstürzen, dann ist die Krise nicht mehr aufzuhalten.
Stephan Schulmeister (Jahrgang 1947) ist Wirtschaftsforscher und unterrichtet an der Universität Wien und der Wirtschaftsuni Wien. Er war zeitweise an Unis in den USA und beim Internationalen Währungsfonds tätig. Er sagt: Viele G20-Regierungschefs haben keine Idee, wie sie Wirtschaftswachstum fördern könnten. Und er erklärt, wieso die EU an der Sparpolitik festhält. Mit ihm sprach Eva Roth.
Ein Verfall der Aktienkurse ist verhindert worden. Wie?
Die USA haben - viel konsequenter als die EU - Banken und Versicherungen verstaatlicht und den Spielraum für Finanzspekulationen eingeschränkt. Gleichzeitig haben die USA und Deutschland die staatlichen Ausgaben erhöht, um die Nachfrage zu stützen. All diese Beschlüsse widersprachen der herrschenden marktliberalen Politik, die die Regierungen über Jahrzehnte verfolgt hatten. Als die Aktienkurse im Frühjahr 2009 wieder stiegen, kehrte insbesondere die politische Elite in Europa wieder zu den alten Rezepten zurück. Dadurch wurde die Krise in Europa vertieft. Wir sind heute in einer Situation, die durchaus mit den 1930er Jahren vergleichbar ist.
Aber die Lage in Europa ist heute doch nicht so dramatisch wie in den 1930er Jahren, als die Nazis an die Macht gewählt wurden!
Das nicht, trotzdem ist die Analogie erlaubt. Wir haben es heute mit einem Giftcocktail zu tun, der die gleichen Zutaten enthält wie damals, nur die Dosis ist geringer. 2008 gab es wie 1929 zunächst eine Finanzkrise. In beiden Fällen folgten eine Sparpolitik, Sozialkürzungen und eine hohe Arbeitslosigkeit. Menschen wurden deklassiert und Rechtspopulisten gewannen an Zulauf. Was bisher gefehlt hat, war der Protektionismus, der in den 1930er Jahren enorm zugenommen hat. Das könnte jetzt hinzukommen, nach dem Brexit und der Wahl von Trump als US-Präsident. Aber, und das ist wichtig: Die Giftdosis ist geringer. Man kann die Wut auf Muslime und Flüchtlinge in der Intensität nicht vergleichen mit dem Antisemitismus der Nazis. Aber die zugrunde liegenden Gefühle sind die gleichen: Rechtspopulisten lenken die Verbitterung von Deklassierten auf Sündenböcke.
Die EU tritt derzeit als Verfechter offener Märkte auf und warnt vor Nationalismus. Und Sie sagen nun: Die EU selbst hat mit ihrer marktliberalen Politik Nationalisten stark gemacht?
Die neoliberale Politik dominiert seit ungefähr 30 Jahren in ganz Europa. Sie wurde und wird auch von der EU verfolgt. Die Sparpolitik in der Krise war eine Fortsetzung dieser Politik. Sie hat eine wachsende Zahl von deklassierten Menschen hervorgebracht, die für Nationalisten ansprechbar sind. Insofern hat auch die EU den Nationalismus gefördert, auch wenn sie das natürlich nicht wollte.
Unter der EU-Sparpolitik leidet vor allem Südeuropa. Dort sind rechte Kräfte nicht so stark. Wieso haben ausgerechnet die Briten für den EU-Austritt gestimmt? Die Ungleichheit ist dort doch schon in den 80er Jahren stark gestiegen, in jüngster Zeit hat sich nicht viel verändert.
In Großbritannien ist die Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts am weitesten fortgeschritten, gerade weil Thatcher schon in den 80er Jahren damit begonnen hat. Die Verbitterung der Verlierer kann auf die Mühlen von nationalistischen Populisten gelenkt werden, was zum Brexit geführt hat. Diese Menschen können aber auch für sozialstaatliche Ideen gewonnen werden, wie der Erfolg des Labour-Chefs Corbyn zeigt. Corbyn ist wie der Sozialist Sanders in den USA eine Persönlichkeit, die ungeachtet der 40-jährigen marktreligiösen Vernebelung so etwas wie Prinzipien hat.
Befürworter der EU-Sparpolitik sagen: Die Wirtschaft in Europa wächst wieder stärker. Das zeigt, dass unsere Rezepte wirken.
Dass die Wirtschaft in Fahrt kommt, stimmt. Wobei der Aufschwung mit Abstand der schwächste seit 1945 ist. Die Erklärung ist aber falsch. Den Aufschwung gibt es, seit die Europäische Zentralbank die Zinsen auf Null gesetzt hat und seit Länder wie Spanien, Frankreich und Portugal die EU-Defizitregeln einfach ignorieren und mehr Geld ausgeben, als der Fiskalpakt erlaubt. Die EU-Kommission hat die höhere Verschuldung von Spanien toleriert, weil sie gespürt hat, was politisch auf dem Spiel steht, nachdem die beiden großen Parteien massiv an Zustimmung verloren haben. Vielleicht wollte die Kommission auch einen Sieg der linken Podemos verhindern. Griechenland wird dagegen weiter ein harter Sparkurs verordnet, dort ist kein Aufschwung in Sicht.
Und warum steht dann der Zuchtmeister Europas relativ gut da?
Deutschland hat in den vergangenen Jahren dem Rest Europas einen Sparkurs verordnet und selbst klammheimlich keynesianischen Wein getrunken. In der Krise 2008/2009 hat der Bundestag Konjunkturprogramme beschlossen und Kurzarbeit massiv gefördert. Das war ziemlich erfolgreich. Deutschland hatte 2009 den stärksten Wirtschaftseinbruch in ganz Europa, trotzdem ist die Arbeitslosigkeit fast nicht gestiegen, insbesondere dank der Kurzarbeit. Später hat der Bundestag das Kindergeld erhöht, Investitionen in die Energiewende massiv gefördert, den Mindestlohn eingeführt und die Rente mit 63 beschlossen. Diese expansiven Maßnahmen haben die Wirtschaft stabilisiert.
Die Bundesregierung würde sagen: Wir können uns das eben leisten, unsere Staatsverschuldung ist viel geringer als in Südeuropa.
Trotzdem könnte man sich ja einmal anschauen, was die Sparpolitik in Südeuropa gebracht hat: Die Verschuldung ist in den Staaten besonders stark gestiegen, die besonders hart gespart haben. Die Arbeitslosigkeit ist dort besonders gestiegen, wo die Löhne besonders stark gekürzt wurden, insbesondere in Griechenland. Wenn man das sieht, dann könnte man sich doch irgendwann am Kopf kratzen und sagen: Na ja, vielleicht stimmt an meiner Wirtschaftstheorie etwas nicht. Vielleicht ist es doch nicht so günstig, die Nachfrage abzuwürgen, wenn sie ohnehin schon schwach ist.
Derzeit ist das weltweite Wachstum relativ gering. Da sind Sie sich mit den meisten Politikern und Ökonomen einig. »Woran es fehlt, sind Investitionen zur Unterstützung des weltweiten Wachstums«, schreibt die Industrieländerorganisation OECD. Was läuft schief?
Für Investitionen in die Realwirtschaft braucht ein Unternehmen Vertrauen in die Zukunft, weil sich die Anschaffung einer neuen Maschine oder der Bau einer neuen Fabrik frühestens nach einigen Jahren auszahlt. Die Firmen müssen darauf vertrauen, dass sie die zusätzlichen Produkte auch verkaufen können. Die Politik - allen voran die EU - kann dieses Vertrauen nicht in ausreichendem Maße schaffen, weil sie keine funktionierende Wachstumsstrategie hat. Stattdessen hat sie die Finanzmärkte auch nach 2008 nicht wirkungsvoll reguliert. Die Folge: Es gibt starke Preisschwankungen, etwa bei Rohstoffen und Währungen. Das erhöht die Unsicherheit für Realinvestitionen. Also legen viele Unternehmen ihr Kapital an den Finanzmärkten an und kaufen Aktien statt Maschinen. Diese Wertpapiere können sie jederzeit wieder verkaufen und das Geld woanders anlegen. Bei Maschinen geht das nicht. So wird Kapital auf die Finanzmärkte geleitet statt in die Realwirtschaft.
Und deshalb haben die Aktienpreise in Deutschland, den USA und trotz des Brexits auch in Großbritannien Höchststände erreicht?
Ja. Der Dax, in dem die Aktien von 30 Unternehmen zusammengefasst sind, ist seit 2009 um 300 Prozent gestiegen. Das heißt: Gemessen an den Aktienpreisen ist der Wert dieser Unternehmen um 300 Prozent gestiegen. Das ist plemplem. Die Unternehmen haben nicht in dem Maße investiert und Vermögenswerte wie neue Fabriken aufgebaut. Jeder Volksschüler kann erkennen, dass hier etwas nicht stimmt. Den meisten deutschen Ökonomieprofessoren und Politikern ist dieser Gedanke nicht zuzumuten. Sie preisen weiterhin den Nutzen der freien Märkte.
Wenn man sich die weltweite Entwicklung anschaut, gibt es auch Fortschritte. Der Ökonom Branko Milanovic betont, dass die Ungleichheit zwischen den Staaten geschrumpft und die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, gesunken sei. Der Hauptgrund dafür sei das starke Wachstum in Asien, insbesondere in China und Indien.
Das stimmt alles, und es gibt dafür auch eine Erklärung. In China hat Deng Xiaoping nach 1982 eine extreme Form der realkapitalistischen Spielanordnung umgesetzt. Er hat erstens strikte Regeln für die Finanzmärkte festgelegt. Dazu gehörten feste Wechselkurse, eine Kontrolle des Kapitalverkehrs und ein staatlicher Bankensektor. Zweitens setzte der Staat ehrgeizige Wachstumsziele fest. Beides führte dazu, dass in die Realwirtschaft investiert wurde. Das Kapital ist in den Bau von Fabriken geflossen, in- und ausländische Unternehmen konnten darauf vertrauen, dass sich die Investition rentiert. Wegen der regulierten Finanzmärkte waren Zins- und Währungsrisiken gering. Das Land erlebte das größte Wirtschaftswunder aller Zeiten. Seit einigen Jahren lockert die Regierung die Finanzvorschriften, Spekulationen nehmen zu. Das könnte ein Hindernis werden auf dem Weg Chinas zum globalen wirtschaftlichen Hegemon.
Was kann die EU daraus lernen?
Die politischen Eliten müssten sich von ihrer Marktreligiösität emanzipieren. Märkte sind Instrumente, die den Menschen nützen sollen. Also muss man schauen, welche Märkte unter welchen Bedingungen funktionieren. Finanzmärkte funktionieren nur, wenn sie strikt reguliert sind. Als ersten Schritt könnte die Politik eine Finanztransaktionssteuer einführen, um Spekulationen weniger attraktiv zu machen und Kursschwankungen zu reduzieren. Das wäre ein Hoffnungsschimmer, dass die Eliten verstanden haben.
Aber das reicht doch nicht.
Natürlich nicht. Die europäische Politik bräuchte eine neue Wirtschaftstheorie, eine Alternative zum Neoliberalismus, an der sie sich orientieren kann. Solange es die nicht gibt, könnte die Politik Projekte in Angriff nehmen, die auf jeden Fall vernünftig sind: den Klimawandel bekämpfen, die Eisenbahn massiv ausbauen, Milliarden in die Altenpflege und die Bildung junger Menschen stecken. Bislang wird auf diesen Feldern viel zu sehr geknausert. Dabei steht für mich zweifelsfrei fest: Natürlich könnten wir mit einer alternativen Wirtschaftspolitik in fünf bis zehn Jahren in ganz Europa Vollbeschäftigung haben.
Warum steuern die Regierungen nicht um?
Gerade in Deutschland vertreten fast alle führenden Ökonomen die marktliberale Theorie. Die Bundesregierung müsste also alle Ratschläge dieser führenden Ökonomen permanent missachten. In Einzelfällen hat sie das bereits getan, etwa bei der Kurzarbeit oder der Einführung des Mindestlohns. Auf Dauer gegen die Ökonomenzunft Politik zu machen, ist allerdings schwierig. Die Politik müsste eingestehen, dass sie sich über Jahrzehnte an der falschen Ideologie orientiert hat. Auch das ist schwer. Die Politiker wären dann nämlich mit dem Gedanken konfrontiert, dass sie Millionen Menschen in Südeuropa ins Unglück gestürzt haben. Und dass das völlig sinnlos war.
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