Post-sowjetische Verteilungskonflikte

Russland steht vor einer Vielzahl von Problemen, die sich wegen der Wirtschaftskrise verschärfen

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Ankündigung von Dmitrij Medwedjew ließ aufhorchen: Im Februar letzten Jahres erklärte der Premierminister, die russische Regierung plane, für den Zeitraum 2017 bis 2019 einen stabilen, ausgeglichenen Staatshaushalt vorzulegen. Um dieses Ziel zu erreichen, seien jedoch Budgetkürzungen im Umfang von zehn Prozent des aktuellen Etats erforderlich. Schuld sei der niedrige Ölpreis, der einen massiven Rückgang staatlicher Einnahmen zur Folge habe.

Die Zeit des russischen Wirtschaftswunders, getragen von sprudelnden Öleinnahmen, ist vorbei. Heute steckt das Land in einer Rezession, wobei es weniger die westlichen Sanktionen sind, die der Wirtschaft zusetzen, als der Absturz des Ölpreises und die schwache globale Konjunktur.

Gleichzeitig steht das Land vor einer Vielzahl ungelöster Konflikte, die in der Wirtschaftskrise an Schärfe gewinnen. Ein großes öffentliches Thema ist die Abhängigkeit vom Rohstoffexport. Ein wenig erfolgversprechendes, dafür aber umso populäreres Programm zur Diversifizierung der Wirtschaft hat der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin vorgelegt. Er schlägt umfangreiche Privatisierungen vor, unter anderem der Ölkonzerne, und Investitionen in Bildung und Infrastruktur. National-konservative Akteure um den Präsidentenberater Sergej Glaziew fordern hingegen einen partiellen Bruch mit dem Neoliberalismus. Dazu setzen sie auf Importsubstitution, politische Kontrolle über die Notenbank und die Etablierung eines unabhängigen Zahlungssystems zwischen den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika).

Weniger Raum nimmt die soziale Ungleichheit ein. Obwohl es seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000 gelang, die Armut zu reduzieren, wurden gesellschaftliche Klassenverhältnisse zementiert. So stieg die Vermögenskonzentration. Auf der anderen Seite konstatiert die Armutsforscherin Natalija Tichonowa die Herausbildung einer sozialen Unterschicht, als deren Merkmale sie ein niedriges Ausbildungsniveau, schlechte Wohnbedingungen, Langzeitarbeitslosigkeit und schlechte Gesundheit ausmacht. Frauen und Rentner sind überproportional von Armut betroffen.

Ein Tabuthema ist nach wie vor die Lage im Nordkaukasus. Das Resultat der zwei Tschetschenien-Kriege ist nicht die (gewaltsame) Befriedung der Region, sondern die Ausdehnung des Konfliktes auf Nachbarrepubliken.

Seit Beginn der Wirtschaftskrise wird Russland immer mehr zum Bestandteil internationaler Konflikte. Ein wesentlicher Grund liegt in der Entwicklung des post-sowjetischen Raums seit den frühen 1990er Jahren. Die Auflösung der UdSSR und der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft schufen eine Vielzahl neuer Konflikte. In allen sowjetischen Nachfolgestaaten hat die soziale Ungleichheit zugenommen. Der Verarmung breiter Schichten steht die Herausbildung einer kleinen Machtelite (Oligarchen) gegenüber, der es gelang, sich in den Privatisierungsprozessen zu bereichern. Einer gesellschaftlichen Demokratisierung steht sie skeptisch gegenüber, da sie ihre politischen und wirtschaftlichen Privilegien gefährden würde.

Im Zuge der Wirtschaftskrise nehmen Verteilungskonflikte zu, die oft - ethnisch überformt - gewaltsam eskalieren. Russland hat die eigene Vormachtstellung im post-sowjetische Raum nicht dazu genutzt, den Krisentendenzen entgegenzuwirken. Die Unterstützung autoritärer und korrupter, aber pro-russischer Regime, das Versäumnis, eine stabile Sicherheitsarchitektur in der Region zu etablieren, sowie der Fokus auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik haben die Widersprüche sogar verschärft.

Zugleich - und das ist der zweite Grund für Russlands verstärktes militärisches Engagement - ist die Entwicklung des post-sowjetischen Raums zunehmend umkämpft. Nach der Auflösung der UdSSR wurde die Region als peripherer Rohstofflieferant in den Weltmarkt integriert. Als Krisenlösung forciert ein Teil der russischen Elite seit einigen Jahren eine Re-Industrialisierungsstrategie. Die Gründung der Eurasischen Union wird mit der Hoffnung verbunden, die einseitige Ausrichtung auf den Rohstoffexport zu überwinden. Damit soll der eurasische Integrationsprozess mit einem attraktiven Entwicklungsprojekt verbunden werden und die russische Hegemonie im post-sowjetischen Raum absichern.

Diese Pläne stoßen jedoch nicht nur in der EU und den USA auf Widerspruch, sondern auch in der Region selber. In Zentralasien entsteht durch die »Neue Seidenstraße« ein konkurrierendes Entwicklungsprojekt unter chinesischer Führung, das die russische Vorherrschaft in der Region herausfordern könnte. Auch eine vertiefte wirtschaftliche Kooperation ist aus russischer Sicht nur begrenzt sinnvoll. Anstatt aus Europa importiert Russland Industrie- und Konsumgüter nun verstärkt aus China und verkauft im Gegenzug Öl.

Eine Strategie der Re-Industrialisierung ist unter diesen Handelsstrukturen kaum zu realisieren. Dies setzt einem Bündnis beider Länder enge Grenzen. Was Russland mit China und anderen Staaten, zum Beispiel Iran, verbindet, ist das gemeinsame Interesse, eine multipolare Weltordnung zu etablieren und den US-amerikanischen Einfluss zurückzudrängen. Es handelt sich also bestenfalls um taktische Bündnisse.

Gegenwärtig befindet sich Russland an einem Scheideweg. Die neue internationale Rolle ist einerseits ein Ausdruck der gesellschaftlichen Konsolidierung seit den frühen 2000er Jahren. Andererseits manövriert sie das Land tiefer in bewaffnete Konflikte (Syrien, Ukraine).

Vor diesem Hintergrund böten die aktuellen Proteste im Land die Chance, gesellschaftliche Probleme zu diskutieren. Stattdessen lässt sich eine Verschärfung des autoritären Kurses beobachten. Damit einher geht ein ideologischer Rechtsschwenk, der sich unter anderem im Erstarken des großrussischen Nationalismus und einer stärkeren Rolle der orthodoxen Kirche ausdrückt. Die gesellschaftlichen Widersprüche werden so vertieft.

Felix Jaitner lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

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