Wenn Reichtum zum Problem wird

Unternehmen in den G20-Staaten könnten mehr produzieren. Doch es fehlt an Nachfrage. Wie reagiert die Politik?

  • Leo Rossi
  • Lesedauer: 8 Min.

Bei ihrem Treffen in Hamburg haben die Staatschefs der G20 eine Menge Themen auf dem Tisch: Finanzstabilität, Digitalisierung, Klimawandel, Hunger, Handel, Pandemien, Migration, Frauenrechte, kurz: »die großen Probleme der Welt« (Angela Merkel). Unter diesen Problemen sticht jedoch eines hervor, das alle anderen berührt: der Zustand der Weltwirtschaft. Die große Krise scheint vorüber. Unterschwellig jedoch schwelt sie weiter - und sorgt dafür, dass die Mächtigen der Welt sich kaum noch einig werden.

Oberflächlich betrachtet besteht kein Anlass zur Sorge. Die globale Wirtschaftsleistung wächst 2017 das achte Jahr in Folge. Dieses Jahr soll es laut Weltbank um 2,7 Prozent aufwärts gehen, nach 2,4 Prozent 2016. In den USA steigt das Wachstum von 1,6 auf 2,1 Prozent. Die Euro-Zone erreicht 1,7 Prozent und China 6,5 Prozent. Allerorten sinkt die Arbeitslosigkeit seit Jahren. Alles gut?

Nicht ganz. »A fragile recovery« titelt die Weltbank ihren Ausblick - eine zerbrechliche Erholung. Laut der Bank M.M. Warburg »verbreitet die steigende Beschäftigung ein allgemeines Gefühl der Sicherheit« - zu unrecht. Der Industrieländer-Club OECD sieht »beträchtliche Risiken« für die Weltwirtschaft. »Trotz der leichten Konjunkturbelebung bleiben die Wachstumsraten hinter der früheren Entwicklung zurück und fallen weiter zu schwach aus, um die geringe Wachstumsdynamik der letzten Jahre auszugleichen«, so die OECD. Was ist da los? Vier Anmerkungen zum ökonomischen Zustand der Welt - und wie die G20 darauf reagieren.

1. Überakkumulation

Ökonomisch gesehen ist die Welt so reich wie noch nie. Doch das Wachstum reicht nicht - nicht für alle. Unternehmen in den G20-Staaten beklagen Überkapazitäten. Es fehlt an zahlungsfähiger Nachfrage. Wenn Nachfragemangel diagnostiziert wird, dann ist das Angebot offensichtlich nicht das Problem. Die Unternehmen könnten mehr produzieren, es gäbe auch Bedarf. Doch es rentiert sich nicht. Gemessen am Maßstab der Rendite gibt es in den G20-Ländern zu viel Reichtum. Zu viele Fabriken, zu viele Anlagen, zu viele Güter, zu viele Arbeitskräfte, ja sogar zu viel Finanzkapital - an den Finanzmärkten herrscht ein permanenter »Anlagenotstand«, zu viel Geld sucht nach Möglichkeiten, sich zu verwerten. Diagnosen wie »Überangebot« oder »Nachfragemangel« bedeuten: Es herrscht Überakkumulation, dieser spezifisch kapitalistische Zustand, in dem nicht der Mangel, sondern der Überfluss an sachlichem Reichtum das Problem darstellt.

2. Entwertung

Gelöst wird dieses regelmäßig wiederkehrende Problem der Überakkumulation normalerweise durch Entwertung - Unternehmen gehen pleite, Produktionskapazitäten werden dadurch stillgelegt, Konkurrenten verschwinden, der Markt wird »bereinigt«, so dass die zahlungsfähige Nachfrage wieder reicht, um den Übriggebliebenen ein rentable Geschäft zu ermöglichen. Vereinzelt ist dies in den vergangenen Jahren auch geschehen, zum Beispiel in den Euro-Krisenländern. Aber nicht flächendeckend, trotz Krise. So ist in Japan im Jahr 2016 erstmals seit 1989 keine einzige börsennotierte Kapitalgesellschaft pleite gegangen.

Das ist das Werk des Kredits, den zum großen Teil die Staaten stiften. Regierungen haben sich in den vergangenen Jahren massiv verschuldet, um Banken zu retten und die Konjunktur zu stützen. Ihre Zentralbanken haben die Zinsen nahe Null Prozent gesenkt und Billionen »in den Markt gepumpt«, indem sie Wertpapiere kauften. In China geben die staatlichen Banken den Unternehmen sogar direkt Kredite und halten sie so über Wasser. Schon geht die Warnung vor einer »Zombifizierung« (Commerzbank) insbesondere in Japan, China und Europa um: Viele Unternehmen und Banken seien eigentlich lebende Tote, die nur durch billige Kredite am Leben erhalten werden.

Die Kehrseiten dieser Stützungsaktionen sind erstens die Massen an faulen Krediten in den Büchern der Banken - in der Euro-Zone sollen sie sich schon auf eine Billion Euro summieren. In den USA identifiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) gefährdete Unternehmenskredite von über vier Billionen Dollar. Zweitens wächst die Verschuldung, nicht nur der Staaten, auch des Privatsektors: In China ist das private Kreditvolumen seit 2005 von 5 auf 35 Billionen Dollar gestiegen. Drittens verhindern die Kredite Unternehmenspleiten, die Marktbereinigung fällt aus, die Überkapazitäten bleiben bestehen.

Niemand weiß, was geschieht, wenn die Zinsen dereinst einmal wieder steigen. Und was geschieht, wenn die nächste Krise kommt. Und sie wird kommen, schließlich ist der aktuelle Aufschwung schon alt und nähert sich seinem Ende. »Spätestens in der nächsten Rezession werden die Probleme mit voller Wucht zurückkehren«, prognostiziert die Bank M.M.Warburg.

Zwischen den G20-Staaten läuft daher derzeit der Kampf darum, bei wem die fällige Entwertung stattfinden wird. Es herrscht Verdrängungskonkurrenz, also ein verschärfter Kampf um das verbliebene Wachstum und die unzureichende Nachfrage. Angemessenes Wachstum, so die Diagnose zum Beispiel des US-Präsidenten, gibt es nur noch auf Kosten der anderen.

3. Verdrängungskonkurrenz

Einerseits verhindern die Staaten per Kredit die Entwertung in ihrer Wirtschaft. Zum anderen bedienen sie sich verschiedener Methoden, um die Geschäftsbedingungen ihrer nationalen Wirtschaft zu verbessern. »Wettbewerbsfähigkeit« ist das Gebot der Stunde, also die »Fähigkeit«, gegen die anderen zu gewinnen, sie aus dem Feld zu schlagen.

Um diese Fähigkeit zu stärken, ersparen die Staaten ihren Firmen Kosten. So sind die Unternehmensteuern in den Industrieländern gesunken, weitere Senkungen sind in den USA, Frankreich und Großbritannien geplant. Daneben wird die Arbeitskraft per Flexibilisierung verbilligt. In Europa wurden Flächentarife ausgehebelt, Mindestlöhne gesenkt, der Kündigungsschutz aufgeweicht, in Frankreich steht derzeit eine neue Runde der Flexibilisierung an. US-Präsident Donald Trump will die Gewerkschaften weiter schwächen. Die Verbilligung der Arbeitnehmer führt zu einer allerorten sinkenden Lohnquote und zu »strukturellen Schwächen wie stagnierende mittlere Einkommen und die anhaltend hohe Ungleichheit«, so der IWF. Und sie führt dazu, dass das Problem des allgemeinen Nachfragemangels verschärft wird.

In einigen wenigen Ländern ist die Lohnsenkungs-Kalkulation aufgegangen. Zum Beispiel in Deutschland, das über seine riesigen Exportüberschüsse an der Wirtschaft der anderen schmarotzt. Kritik an dieser Praxis wehrt die Bundesregierung ab. Gleichzeitig arbeitet sie daran, die Euro-Zone zu einer Exportmaschine umzubauen, bislang mit Erfolg. Der Leistungsbilanzüberschuss der Währungsunion steigt stetig.

Die US-Regierung ist in dieser Frage offensiv geworden. Deutschland agiere »sehr, sehr unfair«, schimpfte US-Präsident Trump. Ende April erließ Washington ein Dekret, nach dem alle bestehenden Handelsverträge der USA daraufhin überprüft werden sollen, ob sie »der amerikanischen Wirtschaft nützen«. Ist dies nicht der Fall, sollen die Verträge neu verhandelt werden. Ist dies nicht möglich, wird mit Kündigung gedroht.

Die US-amerikanische Drohung kontert die EU derzeit, indem sie rund um die Welt im Eiltempo neue Freihandelsabkommen schließt. Der Ceta-Vertrag mit Kanada ist fertig. Nach langen Jahren der Verhandlungen sollen Abkommen mit dem lateinamerikanischen Mercosur-Bündnis, mit Mexiko und Japan nun bis Ende des Jahres unter Dach und Fach sein. Gespräche laufen bereits mit Myanmar, den Philippinen und Indonesien, bis Ende 2017 sollen Australien und Neuseeland an die Reihe kommen. »In einer Zeit des zunehmenden Protektionismus müssen wir Brücken bauen«, sagte EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström.

Der Streit um die Regeln des globalen Geschäfts steht derzeit im Fokus der Öffentlichkeit und im Zentrum der G20-Verhandlungen. Dort versuchen die jeweiligen Regierungen, die Regeln des globalen Geschäfts so zu setzen, dass genau ihre Unternehmen davon profitieren. Die einschlägigen Titel für diesen Streit sind TTIP, TPP, Nafta, Brexit-Verhandlungen oder Ceta. Hier geht es um sehr viel mehr als bloß um Handel und Zölle. Geregelt werden auch Investorenrechte, die Rolle von Staatsunternehmen, Regulationskosten für die Banken, Zugang zu Staatsaufträgen und vieles mehr. Jede Regierung prüft das Innenleben der anderen Staaten darauf, ob es den eigenen Unternehmen Steine in den Weg legt. Und versucht gleichzeitig, den Unternehmen der anderen Länder das Leben schwer zu machen.

Dies wird allgemein als »Protektionismus« beklagt. Tatsächlich aber plant keine der Regierungen, ihr Land vom Weltmarkt abzuschotten. Auch Trump bleibt dem G20-Treffen nicht fern. Keiner der G20-Chefs träumt von Autarkie, jeder braucht die anderen - zum eigenen Nutzen. Tatsächlich also verläuft die Grenze in der G20 nicht zwischen »Protektionisten« und »Freihändlern«, wie derzeit häufig behauptet wird. Sondern zwischen Ländern, die mit den Erträgen des Handels unzufrieden sind wie die USA oder Frankreich. Und den erfolgreicheren Nationen wie Deutschland und China, die sich zu Bewahrern der aktuell geltenden Regeln und der »offenen Grenzen« aufschwingen.

4. Widersprüche

Das sind die Probleme, die die G20 sich gegenseitig bereiten und auf die sie sich nun als von außen gegebene »Probleme der Welt« beziehen. Ihre staatliche Förderung des Kredits verhindert zwar Unternehmenspleiten, lässt aber gleichzeitig die Schulden steigen und verlängert die Überakkumulation. Lohnsenkung fördert ihre Wettbewerbsfähigkeit und staatliche Sparsamkeit ihre Kreditwürdigkeit. Beides aber verschärft aber das Grundproblem mangelnder Nachfrage. Vermehrter Export kann dieses Problem zwar lösen - aber nicht für alle. Irgendwer muss auch importieren. Und der Versuch, die Regeln des globalen Wettbewerbs so zu gestalten, dass die eigene Wirtschaft profitiert, steht vor dem Problem, dass die anderen das gleiche wollen.

Als Konkurrenten um das Wachstum stehen die G20 einerseits gegeneinander und sind andererseits auf ihre Kooperation angewiesen.

In diesem Kampf zählt allein die politische und ökonomische Macht, das Erpressungspotenzial. Daraus schließt die Bundeskanzlerin: »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.« Da Deutschland auf sich allein gestellt zu schwach ist, wird der europäische Schulterschluss gesucht, vor allem mit Frankreich. »Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen«, sagte Merkel.

Dabei sollen die G20-Demonstranten nun wirklich nicht stören.

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