G20: Eskalation im Schanzenviertel
Geplünderte Geschäfte, brennende Barrikaden, Wasserwerfer und Tränengas: Was geschah in der Nacht von Hamburg?
Berlin. Geplünderte Geschäfte, brennende Barrikaden, Wasserwerfer und Tränengas: Im Hamburger Schanzenviertel hat es in der Nacht auf Samstag stundenlange Krawalle gegeben. Eine Nachrichtenagentur schreibt, »die Proteste gegen den G20-Gipfel eskaliert«. Doch inwiefern das, was rund um das Schanzenviertel geschah, mit der Kritik an dem Treffen noch zu tun hat, darüber wird nun diskutiert werden müssen.
Die Reaktionen auf die Randale sind weithin sehr kritisch - auch aus der linken Szene heraus. Andreas Blechschmidt von der Roten Flora sagte im NDR, er habe den Eindruck, »dass sich hier etwas verselbstständigt hat und dass hier eine Form von Militanz auf die Straße getragen wurde, die sich ein an sich selbst berauscht hat, und das finden wir politisch und inhaltlich falsch«.
In der Nacht hatte eine schwer durchschaubare Mischung aus Randalierern, Schaulustigen, Protestierenden und Anwohnern um mehrere brennende Barrikaden herum das Viertel belagert. Die Polizei hielt sich lange Zeit auffällig an den Brennpunkten zurück. Scheiben von Geschäften wurden eingeworfen, es gab Plünderungen. Eine Nachrichtenagentur schreibt: »Auch seien Molotowcocktails und Gasflaschen in die geplünderte Geschäfte geworfen worden.«
»In einem Konflikt können auch zwei Seiten versagen«
Medien berichten »aus der praktisch rechtsfreien Zone, wie Chaoten das Viertel binnen Stunden verwüsteten«, so etwa die »Frankfurter Allgemeine«. Doch es gibt auch kritische Stimmen. »Ich hatte nie den Eindruck, dass die Polizei wirklich die Schanze frühzeitig kontrollieren wollte«, so der Filmemacher und Buchautor Dirk Laabs im Kurzmeldungsdienst Twitter. »Man hat offenbar gewollt oder in Kauf genommen, dass sich die Wut nach Innen, im eigenen Viertel entlädt.« Die Polizei sei zugleich gegen die Presse vorgegangen, »lässt aber rechtsfreien Raum im Bereich Schulterblatt und Schanzenstraße stundenlang zu.« Laabs weiter: »In einem Konflikt können auch zwei Seiten versagen. Die Eskalation gestern ist einer dieser Konflikte.«
Vor Ort schien die Lage in einigen Bereichen einerseits außer Kontrolle, andererseits standen große Polizeieinheiten in Sichtweite von brennenden Barrikaden - griffen aber nicht ein. »Warum werden die zwei Wasserwerfer, die am Schulterblatt neben dem Feuer stehen, nicht zum Löschen genutzt?«, fragte ein Kollege von der »Taz«. Es sei unverständlich, warum es Wasserwerfereinsätze gegen Umstehende gebe, »gegen das Feuer aber nicht«.
Die Hamburger Polizei rief in der Nacht unter anderem die Medien auf, »das taktische Vorgehen der Einsatzkräfte nicht zu filmen und zu senden«. Dies solle geschehen, »um sie nicht zu gefährden«. Das stieß unter Journalisten umgehend auf Kritik: »Wie bitte?«, twitterte ein Kollege »Tagesspiegel«. Und weiter: »Journalisten sollen Polizeieinsatz nicht dokumentieren dürfen? Ist die Pressefreiheit außer Kraft gesetzt?«
Kurz nach Mitternacht twitterte Frank Schneider, Reporter bei »Bild«, die Polizisten würden an der Schanze »gezielt Journalisten« angreifen und erklärten, »ab jetzt gibt's keine Pressefreiheit mehr, hau ab oder ins Krankenhaus«. Zuvor hatte er vor Ort berichtet: »Bayerische Einsatzkräfte drehen am Rande der Schanzen-Räumung komplett durch, greifen Unbeteiligte und Reporter gezielt an«.
Zeitgleich laufen friedliche Demonstrationen durch Hamburg
Die Polizei meldete am frühen Samstagmorgen: »Aufgrund der anhaltenden Krawallen war die Polizei mit einem großen Aufgebot an Spezialeinsatzkräften im Bereich des Schanzenviertels gegen die militanten Personen vorgegangen.« Ein Haus sei mit Spezialkräften gestürmt worden, dort habe es 13 Festnahmen gegeben. Seit Samstagnachmittag sind laut der Polizei 43 Personen vorläufig fest- sowie 96 Personen in Gewahrsam genommen worden. Seit 22. Juni ist die Zahl der vorläufig Festgenommenen damit auf 143 Personen gestiegen, die der in Gewahrsam genommenen auf 122 Personen. Zum Vergleich: 2010 wurden im Zuge der Demonstrationen am 1. Mai in Berlin 450 Menschen festgenommen.
Die Beamten berichten von »Bewurf mit Steinen und Flaschen sowie den Beschuss mit Zwillen«. Die Behörde spricht bisher von rund 210 verletzten Polizisten, ein Beamter erlitt dabei einen Unterschenkelbruch. »Wir haben noch nie so ein Ausmaß an Hass und Gewalt erlebt«, sagte Sprecher Timo Zill. Wie viele Verletzte es auf der anderen Seite gegeben hat, ist bisher unbekannt. In der Nacht hatten Demosanis wegen»Personalnotstandes dringend ausgebildete Helfer« gesucht.
Zeitgleich zu den Krawallen liefen an anderen Orten Hamburgs überwiegend friedliche Demonstrationen ab. An der kurz vor 21 Uhr gestarteten »Revolutionäre Anti-G20-Demo, G20 entern - Kapitalismus versenken!« auf der Reeperbahn nahmen laut Polizei rund 1.000 Menschen teil. Sie trugen Transparente mit Losungen wie »G20 Entern! Krieg und Krise haben System«. Die Polizei erklärte, es habe auch hier teilweise Vermummung gegeben. Später wurde »die ansonsten friedlich verlaufende Versammlung für beendet erklärt«, so die Behörde.
Am Freitag hatte es tagsüber überall in der Stadt friedliche Blockadeversuche gegeben. Dadurch wurde der Gipfelbeginn erheblich gestört. Durch die Verzögerungen bei der Anreise von einigen Delegationen sei »erfolgreich Sand ins Getriebe des Gipfels gestreut« worden, sagte die Sprecherin von Block G20, Jana Schneider. Gipfelgegner warfen der Polizei vor, bei Räumungen »enthemmte Gewalt« mit Pfefferspray und Wasserwerfern angewandt zu haben.
In der Nacht kursierte zudem das Gerücht, das linke Kulturzentrum Rote Flora im Schanzenviertel sei durch die Polizei gestürmt worden. Dies wurde schnell dementiert: Es befinde sich kein Polizist in dem Gebäude, sagte ein Mitglied des sogenannten Legal Teams der Deutschen Presse-Agentur. Die Anwälte unterstützen Protestler. Die seit fast 30 Jahren besetzte Rote Flora gilt bundesweit als eines der wichtigsten Zentren der autonomen Szene.
Rote Flora spricht von »Polizei-PR-Lügen«
Aus dem Umfeld der Flora hieß es zu den Krawallen im Schanzenviertel: »Stundenlange Eskalation durch vor sich hin schießende Wasserwerfer, dann Polizei-PR-Lügen und Maschinenpistolen«, Innensantor Andy Grote und Polizeichef Hartmut Dudde hätten »weitere Eskalation« gewollt, um ihre Einsatzlinie zu legitimieren und »um ihre Jobs zu behalten«. Zugleich wurde die Frage gestellt: »Wo sind die angeblichen Molotow-Cocktails auf Hausdächern? Warum wurde mit Kriegswaffen wie Maschinenpistolen ins Schanzenviertel gezogen?«
Der G20-Ermittlungsausschuss, der in Kontakt mit Demonstranten steht, gab in der Nacht der Polizei die Schuld an den gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die angestaute Wut über die »brutalen Gewaltexzesse« der Polizei im Verlauf der G20-Demonstrationen habe sich in Auseinandersetzungen mit den Einsatzkräften der Polizei entladen, hieß es in einer Erklärung.
Zudem prangerte der Ermittlungsausschuss die Vorgehensweise der Beamten gegenüber Demosanitätern an. Freitagnacht war laut dem Ausschuss ein mit Maschinenpistolen bewaffnetes Spezialeinsatzkommando in ein Haus eingedrungen, wo die Sanitäter Verletzte behandelten. Den Rettungskräften sei »Hände hoch!« zugerufen und deutlich gemacht worden, dass andernfalls von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wird. Anschließend wurden die Sanitäter aus dem Gebäude gebracht. Erst nach Verhandlungen mit der Polizei sei eine verletzte Person ins Krankenhaus gebracht worden, teilte der Ermittlungsausschuss in einer Presseerklärung mit.
Der anwaltliche Notdienst hatte zuvor eine massive Behinderung durch Polizei und Justiz in Hamburg beklagt. So sei ihnen der Zugang zu Mandanten zunächst verwehrt worden. Den in den Gefangenensammelstellen Festgehaltenen und auch den Anwälten werde nicht mitgeteilt, ob es einen konkreten Straftatvorwurf gebe und ob die Personen dem Haftrichter vorgeführt werden sollen oder ob es sich um eine präventive Ingewahrsamnahme handele.
Polizeibeamte hatten zudem in der Nacht zu Samstag einen Anwalt des Anwaltlichen Notdienstes körperlich angegriffen. Wie der Notdienst in einer Pressemitteilung vermeldete, ist der Jurist von mehreren Polizisten gepackt worden, ins Gesicht gegriffen und zudem der Arm verdreht worden. Anschließend hätten sie ihn aus der Gefangensammelstelle (GESA) geschleift. Er befand sich dort zuvor in einem Beratungsgespräch mit einem Mandanten, der sich nach dem Gespräch komplett entkleiden sollte. Leibesvisitationen werden laut dem Notdienst aktuell vermehrt an den Gefangenen vorgenommen. Die Polizei begründe diese Maßnahme mit der möglichen Übergabe von gefährlichen Gegenständen während der Rechtsgespräche. Als der Rechtsanwalt dieser Leibesvisitation widersprach, sei er daraufhin attackiert worden.
Der Anwaltliche Notdienst verurteilte den Angriff auf Schärfste. Bereits die Annahme, dass Anwälte Gegenstände schmuggeln würden, zeige, dass die Polizei die Juristen als Gefahr sieht. »Eine Polizei, die gegen Anwälte körperlich vorgeht, die sich für ihre Mandanten einsetzen, hat jeden Bezug zum Rechtsstaat verloren«, hieß es in der Pressemitteilung. Seit Donnerstag befänden sich rund 150 Personen in der Gesa in Hamburg-Harburg, dort können bis zu 400 Festgenommene untergebracht werden. Agenturen/nd
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