Widerstandsleerformeln am Randale-Ballermann
Dagrun Hintze wohnt in der Nähe des Schanzenviertels. Sie ist wütend, dass der G20-Gipfel nicht für intelligenten Protest genutzt wurde
Wer in der Nähe des Hamburger Schanzenviertels wohnt, ist eigentlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Zum 1. Mai kauft er ein paar mehr Lebensmittel ein als üblich und parkt, wenn er eines besitzt, sein Auto um. Dann brennen wieder mal ein paar Barrikaden, und die Polizei räumt mit Wasserwerfern. Ohne die Vermummten vom schwarzen Block wäre das folkloristische Bild nicht komplett.
Jetzt stehen direkt vor meiner Haustür mindestens 10 ausgebrannte Autos, vor allem Kleinwagen und VW-Busse. Den Läden, in denen ich normalerweise einkaufe, wurden die Fensterscheiben eingeschmissen, darunter viele inhabergeführte Geschäfte, deren Besitzer genauso gegen den idiotischen G20-Gipfel waren wie die meisten hier im Viertel. Und wir alle wissen im Moment nicht, wohin mit unserer Wut. Auf einen Bürgermeister, der gesagt hat, am 9. Juli würden sich viele Leute wundern, dass der Gipfel schon vorbei sei. Auf einen Innensenator, der »die Lage« offenbar unterschätzt hat – hätte er uns mal vorher gefragt – und auf einen Polizeichef, für den Deeskalation weiterhin eine Weichei-Strategie zu sein scheint.
Aber am wütendsten sind wir alle über die vertane Chance. In den letzten Tagen hätte ein zielgerichteter linker Protest die größtmögliche Bühne gehabt – was haben die Leute in den Vorbereitungscamps eigentlich wochenlang getrieben? Diskutiert, wie man am besten Pyrotechnik nach Hamburg bekommt? Dabei sitzen in dieser Stadt jede Menge Unternehmen, die Protagonisten des ganzen Wahnsinns sind: Unternehmen, deren Praktiken Umwelt und Klima schädigen, Finanz- und Pharmakonzerne, gar nicht zu reden von Fast Food- oder Billigklamotten-Ketten. Und nicht nur der Papst glaubt, dass das Wirtschaftssystem, für das genau diese Geschäfte stehen, tötet – massivere Protestformen können einem da durchaus als geboten erscheinen. Wie viele intelligente und wirksame Aktionen wären möglich gewesen? Und warum gab es die nicht? Weil es geiler ist, Müllcontainer anzuzünden und Pflastersteine rauszureißen? Weil man meint, die Arbeit ist getan, wenn man ein paar Demonstrationen anmeldet?
Weil ich keine Lust mehr hatte, mit den Jungs im schwarzen Hoodie gemeinsame Sache zu machen, lief ich am Samstag erst mal bei »Hamburg zeigt Haltung« mit – einer Demonstration, zu der u.a. Kirchen und Kulturschaffende aufgerufen hatten aber auch SPD und GRÜNE. Auf St. Pauli war diese Demo nicht sonderlich gut gelitten – »Erst G20 einladen und dann dagegen protestieren, wie peinlich« – und natürlich haben die damit auch irgendwie Recht. Noch mehr Bauchschmerzen bereitete mir allerdings die dort praktizierte Kirchentagsrhetorik: Alles gut gemeint, sicher. Nur eben auch verhängnisvoll selbstgerecht. Wer ausschließlich mit dem Finger auf andere zeigt – und bei Figuren wie Trump, Erdogan, Putin und Xi Jinping auf der Weltbühne ist das nicht so wahnsinnig schwer – vermittelt schnell den Eindruck, nur die Deutschen wüssten noch, wie das geht mit der Demokratie und der Freiheit. Ich hatte irgendwann jedenfalls den Eindruck, fehl am Platze zu sein, außerdem wollte ich gern richtiges Bier trinken und nicht nur das alkoholfreie, das dort ausgeschenkt wurde.
Die von Jan van Aken organisierte Demo »Grenzenlose Solidarität« hatte dann deutlich mehr Drive – gibt es einen schöneren Schlachtruf als »Siamo tutti antifacisti«? Doch obwohl selbst die Rote Flora in der Nacht davor bekannt hatte, dass auf dem Schulterblatt inzwischen »sinnbefreite Gewalt« herrsche, konnte man sich hier nicht dazu durchringen, sich vom Menschenleben gefährdenden Testosteron-Exzess junger Krawall-Touristen zu distanzieren. Warum zum Teufel ist das eigentlich so schwer? Linker Protest hat Inhalte zu bieten, die inzwischen sehr vielen Leuten einleuchten. Und die braucht man nun mal, wenn man es ernst meint mit dem Kampf für eine gerechtere Welt. Geplünderte Budni-Filialen sind dagegen – mit Verlaub – einfach nur lächerlich.
Am Samstagabend brannte die Schanze schon wieder. Diesmal war nicht so sehr der schwarze Block beteiligt, stattdessen hatte man es vor allem mit besoffenen Teenagern zu tun, die eine neue Freizeitbeschäftigung entdeckt hatten. Und genau das ist das erbärmliche Bild, das für mich von diesen grauenhaften Tagen übrig bleiben wird: Weil Inhalte geschwänzt und zielgerichteter Protest zugunsten schwachsinniger Randale versäumt wurden, hat man einen Alternativ-Ballermann geschaffen, eine Widerstands-Leerformel, in die sich jeder, der mal ein bisschen auf die Kacke hauen möchte, folgenlos einschreiben kann. Und das ist, in Anbetracht der Themen, über die wir eigentlich reden müssen, eine echte Katastrophe.
Dagrun Hintze, geboren 1971 in Lübeck, ist Autorin. Sie schreibt Theaterstücke, Lyrik, Prosa und Essays, zuletzt erschien Ballbesitz. Frauen, Männer und Fußball.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.