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Diktatur ohne Hemmungen

Arte-Themenabend zum Jahrestag des missglückten Militärputsches in der Türkei

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer Mitte 40 ist wie der Autor dieser Zeilen, für den war die Kapitulation von Hitlers Wehrmacht näher am eigenen Geburtstag als der erste Kriegseinsatz ihrer Nachfolgerarmee - näher natürlich auch als jede der Weltkrisen von heute. Geschichte, so zeigt sich halt immer wieder, rast an uns vorbei wie Landschaften am ICE-Fenster. Ein paar »Brennpunkte« der ARD zum Thema später ist also auch der türkische Putsch schon wieder ein ganzes Jahr alt. Und wie nach jedem Ereignis derart umwälzender Art war auch nach diesem alles anders.

Oder nichts. Für diese leicht bipolare Erkenntnis braucht man vier Tage vorm ersten Jahrestag des gescheiterten Militäraufstands bloß den Arte-Schwerpunkt am heutigen Dienstag zu sehen. Vier kurze, aber sehr informative Dokumentationen skizzieren darin eindrücklich, wie Recep Tayyip Erdogan in nur 20 Jahren vom Hoffnungsträger der türkischen Demokratie zu ihrem Totengräber wurde. Vor allem aber, wie sein Land dabei vom Hoffnungsträger einer besseren Welt zur islamischen Halbdiktatur mutiert ist. Besonders der Auftakt des Themenabends »Im Rausch der Macht« macht dabei schmerzhaft deutlich, wie nah sich Aufbruch und Niedergang zuweilen sind.

Galt Erdogan noch bis vor wenigen Jahren als Hoffnungsträger für eine Demokratisierung des Landes, so brachte der vierte Militärputsch seit Kemal Atatürks Umwandlung des Osmanischen Kalifats in eine laizistische Nation westlichen Zuschnitts vor gut 100 Jahren den islamistischen Reaktionär im Modernisierer Erdogan zum Vorschein. Einen Putsch und zwölf Monate später zeigt der Film von Guillaume Perrier und Gilles Cayatte mit Hilfe vieler Zeitzeugen, wie das vonstatten ging. Hatte der frisch gewählte Ministerpräsident Anfang 2003 Bürokratie und Infrastruktur wie schon als Bürgermeister am Bosporus aus dem Orient in den Okzident geholt, so tat er es mit Zivilgesellschaft und Kultur genau umgekehrt. Spätestens, als der überzeugte Verfechter einer religiösen Volksgemeinschaft 2007 gegen den erklärten Widerstand der übermächtigen Armee im Amt bestätigt wurde, begann Erdogan die Türkei von allem zu säubern, was ihm im Weg stand.

Erst das Militär, danach den Justizapparat, sodann die Medien und seit dem Putsch vom 15. Juli 2016 den gesamten Rest bis tief ins Privatleben der Bevölkerung hinein. »Die Demokratie«, sagt er in einem Filmausschnitt von 1997, »ist nur der Zug, den wir besteigen auf unserem Weg«. Vor zwei Jahrzehnten war die Bedrohlichkeit dieser Worte nur Pessimisten klar. Nun aber, wo sich der Staatspräsident per Volksentscheid zum Alleinherrscher küren ließ und sein Land mit imperialen Prachtbauten im Stile Albert Speers überzieht, wird allen bewusst, dass Erdogans Marsch durch die Institutionen gezielt in die Diktatur führte.

Eine Konsequenz solch demokratisch verbrämter Staatsstreiche zeigt der zweite Film »Abschied von der Türkei«. Porträtiert wird darin die erste Emigrationswelle von vermeintlichen Regimegegnern. »Ringen mit der Demokratie« dagegen will im Anschluss Verständnis fürs neue alte Bedürfnis nach starker Führung entwickeln, stößt aber auf ein autokratisches System, das zwar für volle Regale und fließend Wasser sorgt, die Meinungsfindung darüber jedoch zusehends unter Staatsaufsicht stellt.

Zum Abschluss hört sich Michael Behrens unter Experten um und fragt: »Wohin steuert die Türkei?« Am Ende des Abends klingt die Antwort floskelhaft, aber erschreckend schlüssig: in den fröhlich konsumierenden Faschismus.

Arte, ab 20.15 Uhr

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