Tödliches Afghanistan

Thomas Ruttig über die Situation am Hindukusch und Abschiebungen in ein Land, in dem nach wie vor gekämpft wird

  • Thomas Ruttig
  • Lesedauer: 3 Min.

1662 weitere tote und 3581 verletzten Zivilisten hat die UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) im ersten Halbjahr 2017 registriert. In ihrem kürzlich veröffentlichten Zivilopfer-Halbjahresbericht für Afghanistan heißt es auch, dass zwar 24 Opfer weniger als im Vergleichszeitraum des ersten Halbjahres 2016 zu verzeichnen gewesen seien, aber bei der geringen Abweichung von 0,5 Prozent befindet sich ein wichtiger Indikator für die Intensität des Krieges weiterhin auf »Rekordniveau«.

Die zivilen Kriegsopfer sind nur ein Indikator. Der zweite ist die Zahl der Binnenvertriebenen, zum Ende des Halbjahres auch schon wieder 150 000. Das sind zwar bedeutend weniger als die 660 000 im Gesamtjahr 2016, aber das war auch ein absoluter Rekord. Dass Afghanen in 31 der 34 Provinzen vor Kämpfen fliehen mussten, ist ebenso ein Beleg für den landesweiten Charakter des Krieges wie die Tatsache, dass die Zahlen ziviler Opfer in 14 Provinzen in allen sieben Großregionen des Landes zunahmen. Zehn Prozent der Binnenflüchtlinge kamen im vorigen Jahr übrigens aus Kunduz, dem früheren Hauptstandort der Bundeswehr, deren militärische Leistung sich daran ablesen lässt, dass die Provinz eine der am härtesten umkämpften ist und in weiten Teilen seit Jahren von den Taliban kontrolliert wird. Landesweit haben sie seit Ende 2015, wie aus US-Regierungsangaben hervorgeht, ihre territoriale Kontrolle um ein Viertel ausgedehnt. In der Südprovinz Helmand fühlen sie sich so sicher, dass sie Teile ihrer Führung aus Pakistan dorthin verlegt haben und erwägen sollen, dort eine Gegenregierung zu installieren.

Besonders viele Zivilopfer entfielen - wie schon in der UN-Gesamtbilanz 2016 - auf die Hauptstadt Kabul. Diese hält die Bundesregierung jedoch bisher für sicher genug, um abgelehnte Asylbewerber dorthin abzuschieben. 106 waren es von Dezember 2016 bis zur vorläufigen Aussetzung Anfang Juni - nach dem schweren Anschlag mit mindestens 92 Toten und 491 Verletzten am 31. Mai, bei dem auch die deutsche Botschaft so schwer beschädigt wurde, dass sie geschlossen werden musste.

Das wird es der Bundesregierung schwer machen, in der noch für Juli angekündigten Neubewertung der Sicherheitslage zu argumentieren, die Situation habe sich verbessert. Obwohl: Nach den bisherigen Verdrehungen muss man wohl trotzdem mit allem rechnen. Zum Beispiel weigert sich Berlin ja nach wie vor, offiziell mitzuteilen, welche Gebiete in Afghanistan sie für sicher genug zum Abschieben hält. (Entgegen landläufigen Auffassungen hat Schwarz-Rot allerdings Afghanistan nicht als ganzes zum »sicheren Herkunftsland« erklärt - allerdings bemüht sich die Bundesregierung, diesen Eindruck zu erwecken.)

Selbst im derzeit überarbeiteten, klassifizierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes von November 2016 werden - im Gegensatz zum Vorgänger von 2015 - keine »relativ sicheren« (so damals die Formulierung) Provinzen oder Städte mehr genannt. Die sogenannten Herkunftsländer-Leitsätze des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die sich eigentlich auf diesen Bericht stützen sollen, aber 2016 vor diesem erschienen, nennen Kabul, Herat, Bamian und Pandschir »und andere konstant ausreichend sicher« - aber das ist eine Verschlusssache. Die Namen kennt man nur aus Verfahren, in denen Richter afghanische Asylbewerber fragten, warum sie nicht nach Mazar-e Scharif oder Bamian gegangen seien. Die Frage nach Mazar, in dessen Umgebung sich das Afghanistan-Hauptquartier der Bundeswehr befindet, sollte sich nach einem Anschlag im November des vergangenen Jahres eigentlich erübrigt haben. Dort beschädigte eine Taliban-Bombe schon das dortige deutschen Generalkonsulat so schwer, dass es ins Bundeswehrcamp verlegt werden musste. Opfer waren ausschließlich Afghanen.

Im übrigen hob die UNO in ihrem Bericht erneut hervor, dass ihre Zahlen »konservativ« seien. Die Organisation verwendet nur Fälle, die drei voneinander unabhängige Quellen bestätigen. Wie groß die Dunkelziffer an Kriegsopfern ist, kann niemand sagen. Damit dürfte auch die vom BAMF berechnete und an deutschen Gerichten zur Ablehnung von Asylanträgen aus Afghanistan ins Feld geführte sogenannte Gefahrendichte obsolet werden, die besagt, dass kein Schutz gewährt werden muss, wenn das Verhältnis von Opfern zur Bevölkerungszahl unter 1:800 liegt.

Aber, wie gesagt...

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