Oh, schöner Eingang zum Verdauungskanal

Das Bröhan-Museum zeigt ein wildes Panorama der Kuss-Geschichte

Er schmatzt, zieht Fäden, kann bitter, kann süß sein, trocken, feucht, widerwillig, tödlich: Schon beim Betreten der Ausstellung wird klar, auf welch glattem Eis wir uns beim Kuss bewegen. Da sehen wir »Le baiser«, eine Bronzeskulptur, die Francesca da Rimini und Paolo Malatesta aus Dantes »Göttlicher Komödie« kurz vor dem Kuss in inniger Umarmung zeigt. Die Gesichter sieht man nicht, davor kreuzt der Arm der Frau die obszöne Szenerie. Immerhin geht es um Ehebruch, der die beiden das Leben kosten wird - Inferno! Als das Werk 1887 ausgestellt wurde, durften es nur erwachsene Männer hinter einem Vorhang sehen.

In der Jetztzeit eröffnet das Bröhan-Museum am Schloss Charlottenburg mit der Skulptur seine Ausstellung »Kuss - Von Rodin bis Bob Dylan«. Vorhänge gibt es nirgends, höchstens Schildchen, die vor der Sektion »Kuss und Politik« davor warnen, dass im nächsten Augenblick sittliche Empfindungen verletzt werden könnten oder für Kinder Ungeeignetes zu sehen ist. Dabei sieht man nur zwei Männer in russischen Polizeiuniformen, die sich küssen - oder man müsste den Kindern erklären, was Aids ist. Gewarnt wird davor, dass der Kuss auch heute noch das Potenzial hat, je nachdem wie empfänglich man für Reaktionäres ist, die Skala der menschlichen Empfindsamkeit in zwei Teile zu spalten: Ekel oder Zuneigung.

Wir sehen sich küssende Israelis und Araber (Mann und Frau, Frau und Frau, Mann und Mann), andere sehen Unzucht, Sünde, Fegefeuer. Der Kuss als Ausdruck der radikalsten politischen Ideologie: Liebe. Die Bilder sind Teil der Kampagne »Jews & Arabs Kiss« der israelischen Ausgabe des »Time Out«-Magazins von 2016. Mit der Bilderserie reagierte das Szeneblatt, das Restaurants, Konzerte und Partys vorstellt, auf einen Beschluss des israelischen Erziehungsministeriums, das Buch »Gader Chaja« der Autorin Dorit Rabinyan vom Lehrplan zu nehmen, das von der komplizierten Liebe zwischen einer Jüdin und einem Palästinenser erzählt. In der Begründung hieß es: »Intime Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden bedrohen die getrennten Identitäten.«

Schon einen Kuss vernünftig zu beschreiben, bringt den Menschen anscheinend an den Rand des Wahnsinns. Während das bei Rilke so wunderschön klingt: »Der Kuß ist ein Lied / ein wortloses Lied / ein Kuß - der geschieht! / Es löst das Solo zweier Seelen in vollen Mollakkorden sich: Küsse mich«, versteht Sigmund Freud beim Küssen die Welt nicht mehr und definiert in den 1905 verfassten »Abhandlungen zur Sexualtheorie« den Kuss, wie es abtörnender wohl keiner vor und nach ihm geschafft hat. Da heißt es, der Kuss sei eine Berührung der beiderseitigen Lippenschleimhaut, die bei vielen Völkern einen »hohen sexuellen Stellenwert« habe, obwohl, ja obwohl, »die dabei in Betracht kommenden Körperteile nicht dem Geschlechtsapparat angehören, sondern den Eingang zum Verdauungskanal bilden«.

So kann man das sehen. Der Kuss, das zeigt das Panorama der von Anna Großkopf kuratierten Ausstellung, breitet ein wildes Panoptikum menschlicher Empfindungen vor uns aus, denn viel näher kann ein Mensch einem anderen nicht kommen. Lust, Gleichgültigkeit, Scheu, Abwehr, Überforderung.

Während sich die Kunst am Ende des 19. Jahrhundert ästhetisch obsessiv mit dem Kuss beschäftigt und vor allem im Jugendstil ikonografische Werke wie Peter Behrens’ »Der Kuss« (1898) hervorbringt, auf dem sich zwei Frauenköpfe in perfekter Symmetrie spiegeln, deren Haare medusaartig verwoben sind, wandelt sich die Bedeutung des Kusses um die Jahrhundertwende. Der Symbolismus ist besessen vom Thema Frau und Tod. Ein eindrücklicher Beleg ist Franz von Stucks »Der Kuss der Sphinx«. Die Frau, das bedrohliche Monster, ist kein Lustobjekt, sondern bringt Verderben, dominiert bei Ernst Stör (»Vampir«, 1899) sogar den Sex, weshalb es passt, dass das Bild vom krassen Schwarz-Weiß-Kontrast und schmerz᠆verzerrten Gesichtern lebt. Die Emanzipationsbewegung der 1860er Jahre mit ihren Frauenbildungsvereinen und literarischen Salons sorgte nachhaltig für Verstörung.

Ein charmanter, weil unappetitlicher Bruch in der Ausstellung ist die Sektion »Hygiene«, die Werbung des Mundwasserherstellers Odol zeigt und zwei Wachsmasken aus dem Dresdner Hygiene-Museum, deren Gesichter von der Syphilis entstellt sind. Hier ist man plötzlich emotional wieder ganz nah bei Freud.

Zum Thema passt Florian Meisenbergs Videoinstallation aus dem Jahr 2014, die Herrchen zusammen mit ihren Hunden zeigt. Irgendwie abstoßend, irgendwie anrührend, wie die Gesichter der Männer in extremer Zeitlupe sich mal widerwillig, mal erwartungsvoll der schlabberigen Hundezunge zuwenden, die immerfort die Nase und die Lippen sucht. Mit dem Wort »Obsession« ist der Raum überschrieben, in dem die Arbeit zu sehen ist. Ebenso dort zu finden ist Ulrike Rosenbachs Video »Mutterliebe« von 1978, eines der stärksten Ausstellungsstücke. Wir sehen ein Frauengesicht im Close-up, nur die Wange und der Haaransatz sind zu erkennen. Anfangs unbedeckt, wird das Gesicht im Laufe des Films über und über mit Lippenstiftküssen übersät. Irgendwann verschwimmt das Rot der Abdrücke so sehr, dass kaum zu unterscheiden ist, ob es sich um ein blutig geschlagenes oder ein liebkostes Gesicht handelt.

Etwas enttäuschend ist der Abschnitt »Filmkuss« geraten. Hier dominieren expressionistische Filmplakate der 1920er Jahre, die allesamt schön anzusehen sind, aber nichts zu sagen haben. Die von Josef Fenneker geschaffenen Kunstwerke zeigen Frauen stets in der Rolle der kussbereiten Dame, die vom Generalmajor oder dem Gentlemanverführer in die Knutschkneifzange genommen werden. Spannender sind die kleinen Highlights wie Hashem el Madanis Fotos aus dem »Studio Sheherazade«, die in den 1950er Jahren entstanden. Sie zeigen libanesische Kunden des Ateliers, die berühmte Filmszenen nachstellen. Allerdings dürfen Frauen nur Frauen küssen und Männer nur Männer. Alles andere wäre höchst unsittlich. Eine herrlich absurde Dialektik im Zusammenhang mit der Nicht-Akzeptanz von Homosexualität.

Ein einziger Kuss kann offenlegen, wie wenig und wie viel wir schon über uns verstanden haben. Das schafft sonst nichts auf der Welt.

»Kuss - Von Rodin bis Bob Dylan«, bis zum 3. Oktober im Bröhan-Museum, Schlossstraße 1a, Charlottenburg

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.