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Am Puls des Kapitalismus

Erstmals sind auch die »Krisenhefte« von Karl Marx veröffentlicht

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Krisenparcours, der vor nunmehr zehn Jahren mit der Immobilienbaisse in den USA begann und wegen der gewaltigen Schulden, die derzeit noch auf Staaten, privaten Haushalten und Unternehmen lasten, nicht von allen Ökonomen als überwunden gilt, wirft die alte Frage Hyman P. Minskys auf: »Can it happen again?« Kann es wieder geschehen? Der Washingtoner Finanzexperte hatte sie nach intensiven Studien der Großen Depression 1929 bis 1933 gestellt. Zunächst wenig beachtet, avancierte seine Monografie »Stabilizing an Unstable Economy« 2008 zu einem Bestseller. Minsky räumte die Möglichkeit wiederholter wirtschaftlicher Zusammenbrüche ein, weil es an einer Theorie fehle, die aufzeigt, wie Instabilitäten entstehen. Auch ein anderer Analytiker geriet wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit: Karl Marx, Autor des »Kapitals«, von dem Joseph Schumpeter sagte, dass »es da niemand (gab), der sich mit ihm hätte messen können, weder in Kraft noch in theoretischem Wissen«.

Zum ersten Mal sind nun die sogenannten »Krisenhefte« von Karl Marx veröffentlicht, als neuer Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA): Exzerpte, Notizen und Zeitungsausschnitte, die in engem Zusammenhang mit der Ausarbeitung der »Grundrisse der politischen Ökonomie« und mit seinen Artikeln für die »New-York Daily Tribune« stehen. Da uns die Ungewissheiten wirtschaftlicher Entwicklung nach wie vor begleiten, dürfte es von allgemeinem Interesse sein, wie Marx versucht hat, der ersten Weltwirtschaftskrise 1857/58 beizukommen. Sie begann mit dem Verfall der Eisenbahnaktien und einem Bankenrun ebenfalls in den USA, griff nach wenigen Wochen auf Großbritannien über und betraf nicht nur Nordeuropa, sondern auch den Handel mit Indien, Australien, Ägypten und anderen Ländern.

Als Marx ab November 1857 die Struktur des (nicht-monetären) Marktes und dessen Entwicklung studierte, hatte er sich schon über einige Jahre bemüht, Ursachen und Erscheinungsformen zyklischer Krisen zu ergründen, die spätestens seit 1830 von britischen Ökonomen nicht mehr als zufällig, sondern als eine endogene Eigenart der modernen kapitalistischen Wirtschaftsweise betrachtet wurden. Unmittelbarer Anlass war die Handelskrise von 1847 gewesen, die er in London und Friedrich Engels in Manchester recht quellnah erlebten. Sie hatte auf dem Kontinent Revolutionen ausgelöst. Diesem Umstand geschuldet war es, dass der aus Preußen und schließlich aus Paris vertriebene Dr. jur. ungeduldig die nächste Krise erwartete, weil er sich davon eine Wiederbelebung der revolutionären Kräfte versprach. Später, nach den »chronischen« Bankrotten seit 1873, die sich über viele Jahre hinzogen, ist Marx von der direkten Kopplung Krise - Revolution abgerückt, überzeugt davon, dass solche Depressionen »einen neuen ›industriellen Zyklus‹ mit allen seinen verschiedenen Phasen von Prosperität usw. einleiten«.

Nachdem Engels im März 1858 den »Erforscher der kapitalistischen Produktion«, als den sich Marx sah, über die Amortisation der Maschinerie in der Baumwollindustrie und deren Erneuerungsinvestitionen aufgeklärt hatte, korrigierte er die damals übliche, vor allem von Charles Babbage vertretene Auffassung, dass sich ein Konjunkturzyklus über fünf bis sieben Jahre erstreckt. Er kommt auf Grund der Dynamik des sogenannten fixen Kapitals (Anlagen und Maschinen) auf einen »plus ou moins zehnjährigen Zeitraum«, was sofort in die »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« Eingang gefunden hat. Die Chronik der »gesellschaftlichen Epidemien« des 19. Jahrhunderts hat diese Periodizität im Wesentlichen bestätigt.

Es ist bezeichnend, dass Marx von den Produktionsbedingungen ausging. Zeitgenössische Ökonomen tendierten dazu, die Krisenursachen im Geldmarkt zu suchen. Auf Gier beruhende Spekulation und Finanzmanipulation sollten dafür verantwortlich sein - eine Deutung, die auch heutzutage, zumindest seitens der Medien, bedient wird. Marx gelangt zu der Einsicht, dass Irritationen des Finanzmarktes viel mehr ein Symptom des gesättigten Warenmarktes sind. »Die Spekulation tritt regelmäßig ein in den Perioden, wo die Überproduktion schon im vollen Gange ist. Sie liefert der Überproduktion ihre momentanen Abzugskanäle, während sie ebendadurch das Hereinbrechen der Krise beschleunigt«, schrieb er schon 1850 in der »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue«. Für ihn ist die Finanzkrise die erste Phase einer allgemeinen Krise, auf die eine ernsthafte Industriekrise folgt.

Marx wollte nun prüfen, ob der Einbruch von 1857 und dessen Folgen (mehr als 1400 Banken in den USA mussten ihre Zahlungen einstellen) seine These bestätigen. Er studiert mit beispielloser Detailversessenheit die Halbjahresberichte des englischen Handelsministeriums, vergleicht die Bilanzen der Bank von England von 1847 bis 1857. Er wertet regelmäßig »The Economist« aus, die führende britische Wirtschaftszeitung, aber auch den »Morning Star«, die »London Gazette« und die »Times«. Aus dem »Manchester Guardien« ersieht er, dass die Gläubiger auf den Boom des Goldmarktes verschieden reagieren. Er fertigt großformatige Zeitreihen an und reflektiert die Tabellen in wöchentlichen Abständen. Immer wieder kommt er auf die amerikanische Krise von 1837 bis 1839 und auf 1847 zurück, um Unterschiede zu erkennen. Bereits im Dezember 1857 sieht er sich aufgrund seines reichhaltigen Materials befugt, in einem Leitartikel für die »New-York Daily Tribune« zu vermerken, »die Industriekrise steht nun an oberster und die Geldschwierigkeiten (stehen) an unterster Stelle«.

»Ich arbeite ganz colossal, meist bis 4 Uhr Morgens«, schreibt er an Engels. Nicht nur dass er sich mit den drei Krisenheften, betitelt als »1857 France«, »Book of the Crisis of 1857« und »The Book of the Commercial Crisis«, ein umfangreiches Daten- und (in Form von Zeitungsausschnitten) Belegarchiv anlegt; der Ausbruch der neuen Krise und die Studien zu ihrem Verlauf spornen Marx entscheidend an, sich »nun ernsthaft an die Ausarbeitung meiner Grundzüge der Ökonomie« zu begeben, wie er Ferdinand Lassalle im Dezember 1857 schreibt, und es ist kein Zufall, dass er nur zwei Monate später Lassalle über seinen Sechs-Bücher-Plan zur bürgerlichen Ökonomie informiert - eine »Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben«. Für die Manuskripte zum ersten und dritten Band des »Kapital« greift er auf die »Krisenhefte« zurück.

Als Marx die ersten Seiten der Notizbücher füllte, befand sich die Krise auf dem Höhepunkt. In einem »Tribune«-Artikel sagte er voraus, dass die britische Regierung gezwungen seinwürde, das Bankgesetz, das die Menge der ausgegebenen Banknoten begrenzte, aufzuheben, damit die krass gestiegenen Zinsraten wieder sinken. (Alles Erscheinungen, die wir in der Finanzkrise 2007/08 und der Reaktion der Europäischen Zentralbank verfolgen konnten.)

Marx und Engels erwarteten eine Zuspitzung der Lage, aber mit der Suspendierung des Bankgesetzes von 1844 beruhigte sich der Geldmarkt, während die Textilproduktion, der mit Abstand wichtigste britische Industriezweig, weiterhin stockte, der Handel fast brachlag und die Preise drastisch fielen. Zu Beginn des Jahres 1858 deutete sich eine Besserung an, was Marx ebenso penibel dokumentierte wie den Verfall der Liquidität und die zahlreichen Konkurse zuvor. Im Grunde spiegeln die »Krisenhefte« den Gipfel der Depression sowie die allmähliche Erholung der Wirtschaft und des Handels. Sie wurden durch einige protektionistische oder wie in Hamburg durch korporative Maßnahmen - ein in der Wirtschaftsgeschichte neues Phänomen - unterstützt.

Unmittelbaren Niederschlag finden die Recherchen in Leitartikeln für die »New-York Daily Tribune«. Der in Lancaster lehrende Ökonom Michael Krätke bezeichnete sie als »erste Proben einer neuen Literaturgattung, der Konjunkturberichte«. Marx kritisiert darin, dass der Fehler aller bisherigen Untersuchungen von Krisenursachen, auch der des britischen Unterhauses, darin liege, dass sie »jede neue Krise als eine isolierte Erscheinung behandeln, welche … folglich nur durch jene Ereignisse, Bewegungen und Faktoren erklärt werden muss, die ausschließlich für eine Periode, die gerade zwischen der vorletzten und der letzten Erschütterung liegt, charakteristisch ist oder als charakteristisch angesehen werden«. Die unterschiedlichen Merkmale jeder neuen Krise dürften jedoch »nicht die ihnen allen gemeinsamen Aspekte überschatten«.

Deshalb richtet Marx sein Augenmerk auf die produktive Sphäre und sieht die Ursachen in den »allgemeinen Bedingungen der capitalistischen Production«, die zu ergründen das Programm seiner langjährigen, letztlich unabgeschlossenen Forschungsarbeit sein sollte. Die »reale Crisis kann nur aus der realen Bewegung der capitalistischen Production, Concurrenz und Credit dargestellt werden«, schreibt er in den »Theorien über den Mehrwert«. Und er stellt klar, dass »Regierungsgewalt« keine Krise verhindern kann, weil sie sich aus der periodischen Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage ergibt und dem darauf folgenden Zusammenbruch des Finanzmarktes, dem er eine relative Eigenständigkeit zuerkennt.

Darüber, ob Marx so etwas wie eine Krisentheorie entwickelt hat, wurde heftig gestritten. Explizit gibt es sie nicht. Trotzdem können aus den vorhandenen, unfertigen Texten Ansätze einer solchen Theorie herausgelesen werden, zumindest das, was nach Marx’ Ansicht einfließen müsste. Einige Beobachtungen sind so relevant, dass man sich wundert, warum sie von der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre ignoriert wurden und noch heutzutage ignoriert werden. Bewunderung ist angebracht, bedenkt man, dass die »Krisenhefte«, die Marx auch als einen modernen Sozialwissenschaftler ausweisen, verfasst wurden, als es weder umfassende amtliche Statistiken noch eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gab.

Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Exzerpte, Notizen, Marginalien: November 1857 bis Februar 1858. Bd. IV/14. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bandbearbeiter: Kenji Mori, Rolf Hecker u. a. Verlag De Gruyter. 689 S., geb., 149,95 €.

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