UN-Expertin: EU nimmt mehr Tote im Mittelmeer in Kauf
Berichterstatterin der Vereinten Nationen kritisiert Verhaltenskodex für private Seenotretter / Italien verstoße gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen
Genf. Eine UN-Menschenrechtsexpertin hat den von der EU befürworteten Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer kritisiert. Die Vereinbarung, die Italien mit mehreren Hilfsorganisationen geschlossen hat, könne zu mehr Todesfällen führen, sagte die UN-Berichterstatterin für außergerichtliche und willkürliche Hinrichtungen, Agnes Callamard, am Dienstag. UN-Berichterstatter sind unabhängige Experten, die für die Vereinten Nationen Menschenrechtssituationen untersuchen.
Italien verstoße gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen, wenn mit dem Kodex Rettungsaktionen verhindert und dadurch vorhersehbare und vermeidbare Todesfälle in Kauf genommen würden. »Der Kodex und der Aktionsplan legen nahe, dass Italien, die Kommission und die EU-Mitglieder das Risiko und die Realität von Todesfällen im Meer als einen Preis betrachten, den zu zahlen es wert ist, um Migranten und Flüchtlinge abzuschrecken«, so Callamard.
Auch die Unterstützung der Kommission für die libysche Küstenwache kritisierte die Französin. Flüchtlinge nach Libyen zurückzuschaffen setze diese weiterer Gewalt aus. Es gebe Berichte, wonach die Küstenwache selbst auf Migrantenboote geschossen habe.
Der Verhaltenskodex sieht unter anderem vor, dass Hilfsschiffe libysche Territorialgewässer meiden. Am Wochenende hatten Hilfsorganisationen wie Sea Eye, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children angekündigt, sich vorläufig von Rettungseinsätzen zurückzuziehen. Als Gründe nannten sie Drohungen sowie Ankündigungen aus Libyen, die eigene Such- und Rettungszone auf internationale Gewässer auszuweiten.
Am Montag forderte die Hilfsorganisation Sea Watch die Bundesregierung auf, die Kooperation mit Libyen im Kampf gegen Schlepper vorerst zu beenden. »Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihre Unterstützung für die sogenannte libysche Küstenwache auf Eis legt, solange sie ihre Drohungen nicht zurückzieht«, sagte Ruben Neugebauer, Sprecher von Sea-Watch. Es sei ein »absoluter Skandal«, dass Libyen Hilfsorganisationen unverhohlen bedrohen könne und trotzdem weiter von der Politik unterstützt werde, so Neugebauer. Auch die Organisation »Jugend rettet« kritisierte die Zusammenarbeit der EU mit der libyschen Küstenwache.
Mit dem Stopp der Hilfseinsätze Freiwilliger im Mittelmeer fürchten viele mehr Tote. Neugebauer erklärte, es sei zu bezweifeln, dass Libyen in der Lage für ordentliche Rettungseinsätze im Mittelmeer sei. Die libysche Küstenwache sei eher eine Miliz, die auch Sea-Watch bereits bedroht habe. Die Kapitänin des Schiffes der Organisation »Jugend rettet«, Pia Klemp, kritisierte die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache ebenfalls scharf: »Es handelt sich um eine völlig wahnsinnige Truppe, die wie im Wilden Westen auftritt - niemand kann sicher sein, ob er nicht von ihnen beschossen wird.«
Was die »Identitären« nicht schaffen, vollzieht der »gescheiterte libysche Staat«
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) erklärte, was die völkisch-nationalistische »Identitäre Bewegung« mit ihrem Schiff zur Abwehr von Flüchtlingshelfern nicht geschafft habe, vollziehe jetzt der »gescheiterte libysche Staat« - einschließlich von Seerechtsverletzungen sowie dem Wegsperren von Flüchtlingen und Migranten in den Lagern grausamster Milizen. »Dass die Bundesregierung und ihre europäischen Partner diese Entwicklung hinnehmen, ist ein humanitäres Armutszeugnis«, so Roth am Dienstag.
Um Schleusern die Geschäftsgrundlage zu entziehen, muss es nach den Worten der Grünen-Politikerin sichere und legale Alternativen zur lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer geben. »Wir brauchen humanitäre Visa, die Wiederaufnahmen der Familienzusammenführung, die humanitäre Unterstützung von Herkunfts- und Transitländern«, so Roth. Das Errichten von immer tödlicheren Mauern hingegen unterwandere die europäischen Gründungswerte und komme einem Konjunkturprogramm für die Schlepper gleich. »Der EU droht der endgültige Verlust ihrer einst so hoch geschätzten menschenrechtlichen Glaubwürdigkeit«, sagte Roth. Agenturen/nd
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