Scharfblick ohne Intelligenz

Sachsen weitet Videoüberwachung aus / Noch keine Gesichtserkennung in Görlitz

  • Hendrik Lasch, Görlitz
  • Lesedauer: 3 Min.

Autofahrer im Kreisverkehr am Grünen Graben in Görlitz gehen reflexartig vom Gas: Gleich zwei Kameras hat die Polizei am Straßenrand platziert. Ob sich die Vorbeifahrenden an das Tempolimit halten, interessiert die Beamten indes nicht. Sie wollen den Autofahrern ins Gesicht sehen - was an dem regennassen Tag nur mit einer der Kameras gelingt: einem Modell, das um zwei Infrarot-Blitze ergänzt worden ist.

Solche Kameras sollen ab 2018 an vier Stellen in Görlitz - darunter an der Altstadtbrücke hinüber ins polnische Zgorzelec - platziert werden, um Einbrechern auf die Spur zu kommen. In der Stadt an der Grenze wurden 2014 und 2015 je 3700 Einbruchsdelikte verzeichnet; 2016 waren es immerhin noch 3000. In Relation zur Einwohnerzahl liegt Görlitz damit an zweiter Stelle im Land. Die Jagd nach Tätern, sagt Polizeipräsident Torsten Schultze, werde in der Stadt erschwert durch »kurze Verbringungswege«: Die Einbrecher sind hier im Nu jenseits der Grenze und damit dem Zugriff der Polizei entzogen. In der Bevölkerung sorgt das für Unmut, wie der parteilose Rathauschef Siegfried Deinege erklärt: »Wenn in einem Haus zum zweiten oder dritten Mal eingestiegen wird, wird es schon sehr emotional.«

CDU-Innenpolitiker stellen Abhilfe in Aussicht, erst recht in Wahlkampfzeiten. Zur Präsentation der Technik, mit der potenziell Kriminelle ins Netz gehen sollen, erschienen dieser Tage neben dem CDU-Innenminister Markus Ulbig auch der örtliche Abgeordnete im Landtag sowie der Kandidat für den Bundestag. In einem monatlichen Rundbrief der Fraktion im Landtag hatte Ulbig schon im Februar von einem Pilotprojekt für eine »intelligente Videoüberwachung« geschwärmt. Hochauflösende Kameras sollen bei der Gesichtserkennung helfen - »aufbauend auf dem bei Straftätern üblichen Verhaltensmuster«. Wie immer das aussieht: Die Formulierung legt nahe, dass es sich um ein automatisiertes Verfahren handelt.

Davon ist die Technik, die nach einer demnächst beginnenden Phase von Ausschreibung und Beschaffung nächstes Jahr in Görlitz hängen soll, weit entfernt. Zwar verfügen die Kameras, deren Kosten im sechsstelligen Bereich liegen, über viel Scharfblick. Intelligent sind sie indes nicht. Die Bilder, die sie aufnehmen und die in einem mit dem Landesdatenschützer abgestimmten Verfahren für bis zu 96 Stunden gespeichert werden, müssen im Bedarfsfall, also etwa nach Anzeigen wegen eines Einbruchs, von Polizisten auf verdächtige Personen hin abgesucht werden. Teilweise wird dabei auch nach hinlänglich bekannten Gesichtern geschaut: 43 Prozent der gefassten Tatverdächtigen in dem Deliktbereich seien Mehrfachtäter, jeder Fünfte werde gar mehr als fünfmal im Jahr auffällig, sagt Schultze.

Dass in Görlitz demnächst zwar Superkameras eingesetzt, die Bilder aber manuell ausgewertet werden, ist Bestätigung für den grünen Innenexperten Valentin Lippmann. Er wirft Ulbig eine »fortlaufende Täuschung der Öffentlichkeit« vor, wenn er von intelligenter Überwachung spreche. Zutreffender ist indes wohl, dass bei Ulbig der Wunsch die Mutter der Formulierung ist. Der Minister macht in Görlitz keinen Hehl daraus, dass er sich eine automatisierte Gesichtserkennung wünscht - wofür aber in Sachsen das Polizeigesetz geändert werden müsste. Eine Novelle steht auf der Aufgabenliste der Koalition aus CDU und SPD; dass die Gesichtserkennung vom kleinen Koalitionspartner mitgetragen wird, wird aber bezweifelt. Abschreckend, hofft Polizeichef Schultze, werden indes auch Superkameras ohne Intelligenz wirken.

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