»Die Bulgaren haben den Eindruck, vergessen worden zu sein«

Valeska Grisebachs über Ressentiments, ein konservatives Kinogenre und ihren neuen Film »Western«

  • Katharina Dockhorn
  • Lesedauer: 4 Min.

Cannes, München, New York – Valeska Grisebachs »Western« sorgt weltweit für Gesprächsstoff. Ihr moderner Genrefilm führt in ein abgelegenes staubiges Tal im Süden Bulgariens, wo der Alltagstrott durch die Ankunft einer Gruppe deutscher Bauarbeiter gestört wird, sie sogar die deutsche Flagge hissen. Verschiedene Kulturen und Mentalitäten prallen in der Hitze des Sommers aufeinander.

Trotz der Berlinale Teilnahme von »Sehnsucht« mussten die Zuschauer über zehn Jahre auf das Folgeprojekt warten. Woran hakte es?
An meiner Geschwindigkeit und dem Anspruch an meine Arbeit. Das Nachdenken über »Western« hat mich länger gefesselt als zunächst gedacht, die Geschichte sollte auch in ihren Subtexten funktionieren. Urspünglich wollte ich 2014 drehen. Weil die Finanzierung zusammenbrach, musste ich um ein Jahr verschieben. Aber vor allem habe ich eine Tochter bekommen und die Zeit mit ihr genossen. Ichwusste, dass ich diese Erfahrung verliere, wenn ich am Set stehe.

Zur Person

Die deutsche Regisseurin Valeska Grisebach.

Sie sind eine der wenigen deutschen Regisseure, die Menschen ins Zentrum stellen, die ihr Geld mit ihrer Hände Arbeit verdienen. Was reizt Sie an diesen Milieus?
Das Milieu ergab sich jeweils aus der Ursprungsidee. Das Dorf in »Sehnsucht« kreierte einen altmodischen, archaischen Moment, der für die Geschichte wichtig war. Jetzt habe ich über Westerntypen nachgedacht. Dann landet man, schnell bei Männern vom Bau, die diese Männlichkeit und Körperlichkeit ausstrahlen.

Was bereits Frank Beyer in »Spur der Steine« nutzte?
Reinhardt Wetrek, der den Vorarbeiter spielt, ist sogar mit diesem Film zum Dreh angereist. Er hatte den Balla stets im Hinterkopf.

Warum ausgerechnet ein Western?
Das Westerngenre hat mich als Kind geprägt. Es ist zutiefst konservativ, handelt aber grundlegende Fragen ab: Wie konstituiert sich eine Gesellschaft. Welches Recht gilt, das des Stärkeren oder der Empathie? Die Helden wollen frei, unabhängig und asozial sein, aber müssen doch Verantwortung übernehmen. Diese Bürde interessierte mich. Ich wollte wissen, welche Art von Männlichkeit sich in den versteinerten Gesichtern dieser einsamen Helden manifestiert, die ihre Gefühle gut verstecken?

Als Frau arbeiten Sie sich an Männerbildern ab?
Diese Diskrepanz zwischen dem Ikonenhaften, das sich mit einer Heldenphantasie verbindet, und opportunistischem und feigem Zügen im Verhalten beschäftigt mich auch privat. Das Thema lässt sich keinem Geschlecht zuordnen.

Warum haben Sie die Geschichte nach Bulgarien verlegt?
Ich beobachte im Alltag Ressentiments, die ich nicht Fremdenfeindlichkeit nennen will. Aber doch eine gewisse Herablassung, wenn Deutsche Fremde beurteilen. Das Kräfteverhältnis in Europa spiegelt sich unbewusst in der persönlichen Sichtweise wieder. Das trifft als ärmstes Land der EU besonders. Die Menschen dort haben eine völlig andere Sicht auf Europa der Deutschen. Und nun kommen die reichen Deutschen, die nicht reich sind. Sie teilen viele Erfahrungen und merken, dass sie sich nicht so fremd sind.

Wie sehen die Bulgaren die EU?
Die Bulgaren haben den Eindruck, vergessen worden zu sein. Das mündet in einem gewissen Fatalismus und einem irren Humor. Sie lachen trotz allem über sich selbst. Das eigentliche Problem brachte Ilja Trojanow in »Die fingierte Revolution« auf den Punkt. Die Rumänen haben ihren Diktator umgebracht, in Bulgarien hat die herrschende Klasse die Kleider gewechselt. Die Korruption ist allgegenwärtig. Die Menschen haben verinnerlicht, dass sie fremdbestimmt ist. Das löst Frust aus.

Wie haben Sie Klischees vermieden?
Ich wollte nicht politisch überkorrekt sein, habe die Geschichte aber ständig auf Vorurteile abgeklopft. Wenn ich manchmal fürchtete, in ein Klischee abzugleiten. Haben die bulgarischen Teammitglieder das ganz anders gesehen. Der Film hat von ihnen sehr profitiert. Ich konnte immer fragen, ist das glaubwürdig.

Musste die deutsche Fahne sein?
Mich haben Fahnen immer fasziniert. Sie ist ein Zeichen von Stärke und Schwäche, eine Provokation, zugleich ein Zeichen von Unsicherheit und eine sehr eigenartige Art und Weise, in Kontakt zu treten.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -