Heiß begehrt
Bei der öffentlichen Kinderbetreuung gibt es noch Luft nach oben. Darin sind sich die derzeitigen Bundestagsparteien einig
Der Kita-Ausbau geschieht manchmal Hals über Kopf. Im Zuge des eingeführten Rechtsanspruchs im August 2013 wurden in den vergangenen zehn Jahren mehr als 400 000 neue Einrichtungen geschaffen. Weil die Ausbildung von Betreuungspersonal aber nicht nachkommt, ist vielerorts ein Ungleichgewicht entstanden. »Wir brauchen mehr Personal in den Einrichtungen, gestärkte Kita-Leitungen, passgenaue Öffnungszeiten«, sagte unlängst die Familienministerin Katarina Barley (SPD). Immer wieder kommt es nämlich zu Engpässen bei der Betreuung. In Berlin beispielsweise führt der Fachkräftemangel dazu, dass Hunderte Plätze ungenutzt bleiben müssen. Auch im niedersächsischen Gifhorn fehlen Pädagogen. Insbesondere bei Vertretungskräften sei es schwierig, Betreuungspersonal zu finden, erläutert eine Sprecherin der Stadt.
Doch trotz dieser andauernden Betreuungslücken ist der begonnene Kita-Ausbau ein Erfolgsmodell. Längst reichen die 750 000 Plätze, die die Bundesregierung auf dem Krippengipfel vor zehn Jahren anvisiert hat, nicht mehr aus. Die Nachfrage ist gestiegen. Annähernd die Hälfte der Eltern (46 Prozent) wollen inzwischen ihre Kleinkinder in die Betreuung geben. Viel mehr als noch vor einigen Jahren. Nach Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts für Wirtschaft (IW) fehlen insbesondere in Westdeutschland derzeit weiterhin etwa 262 000 Plätze, in Ostdeutschland 31 000.
Im Wahlkampf sagen Politiker gern, was die Wähler wollen. Wir haben Bürgerinnen und Bürger selbst gefragt, was ihnen wichtig ist und was sie von der Politik erwarten. Wir haben die Versprechen der Parteien genauer angeschaut und nach guten Lösungen im Sinne der Bürger Ausschau gehalten.
Dafür hat “nd” folgende Menschen getroffen:
nd hat getroffen: einen Hochschulangestellten aus Cottbus, einen Kitaerzieher aus Gifhorn, einen Facharbeiter aus Berlin, eine geflüchtete Frau aus Syrien, einen Niedriglohnbeschäftigten aus Berlin, einen Wohnungslosen aus Hannover, einen Rentner aus Berlin, einen Studierenden aus Kassel, eine Erwerbslose aus Löbau (erscheint am 22. September).
Lesen Sie diese und viele weitere Texte zur Bundestagswahl 2017 unter: dasND.de/btw17
Dieser gestiegene Bedarf deutet auf einen Wandel bei den Einstellungen der Eltern hin. Mütter drängen nach der Geburt ihres Kindes zeitiger als noch vor einigen Jahren in den Job zurück, während viele Väter danach streben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, um mehr Zeit für ihre Kinder zu haben. Bei ihren Wünschen, wie sie das Familien- und das Berufsleben miteinander verbinden wollen, haben sich die Geschlechter in den vergangenen zwei Dekaden merklich angenähert.
Auf diesen gesellschaftlichen Wandel und die neu gestellte Frage einer Vereinbarkeit von Familie und Arbeit reagieren auch die Parteien in ihren Wahlprogrammen. Alle derzeit im Bundestag vertretenen Parteien sprechen sich für einen Kita-Ausbau auch in der kommenden Legislaturperiode aus. Die Grünen fordern zudem ein Qualitätsgesetz, um die Standards künftig verbindlich festzulegen. Ihr Modell sieht einen Betreuungsschlüssel mit einer Verteilung von vier Kindern unter drei Jahren und zehn ältere Kindern pro Erzieher oder Erzieherin vor. Die Linkspartei fordert einen noch weitreichenderen Personalschlüssel. Demnach soll sich im Schnitt eine Fachkraft um drei Kinder unter drei Jahren sowie acht ältere Kita-Kinder kümmern. Auch Erziehungswissenschaftler empfehlen einen solchen Schnitt.
Die frühere Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) hatte es in ihrer Amtszeit nicht geschafft, sich mit einem Vorstoß für ein Betreuungsgesetz innerhalb der Großen Koalition durchzusetzen. Sie scheiterte maßgeblich an den Kosten, die solche verbindlichen Vorgaben verursachen, denn dann müssten Tausende Erzieherinnen und Erzieher zusätzlich eingestellt werden. Die Bertelsmann-Stiftung geht aktuell von einem Bedarf von zusätzlich 107 200 vollzeitbeschäftigten Fachkräften aus, um den wissenschaftlichen Empfehlungen nachzukommen. Nach Berechnung der Bertelsmann-Stiftung müssten dafür jährlich zusätzlich 4,9 Milliarden Euro bereitgestellt werden.
Zwar besteht grundsätzlich zwischen den derzeitigen Bundestagsparteien Einigkeit über die Fortführung des Kita-Ausbaus, aber es bleibt abzuwarten, ob die künftigen Regierungsparteien einen weiteren Anlauf nehmen werden, um die Qualität verbindlich zu regeln.
Unterschiedliche Konzepte verfolgen die Parteien, um die Eltern an den Kosten zu beteiligen. Linkspartei und SPD fordern eine Gebührenfreiheit, um niemandem Chancen zu verbauen. Die AfD hat zuletzt in den Kita-Gebühren gar eine Bestrafung der Eltern gegenüber Kinderlosen gesehen. Ganz anders argumentieren die Union und die Grünen. Sie plädieren für eine einkommensabhängige Zuzahlung. Die FDP möchte die Finanzierung von Kitas und Schulen generell auf Bildungsgutscheine umstellen. Für jedes Kind erhalten Eltern einen Gutschein, den sie bei dem Träger einlösen können. Damit wollen die Liberalen zum einen mehr Transparenz bei der Mittelzuwendung schaffen. Da sie bei öffentlichen wie privaten Trägern einzulösen sind, verspricht sich die FDP auch mehr Wettbewerb unter den Einrichtungen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.