Fertig werden mit der ökonomischen Scheiße

Das Hamburger Museum der Arbeit widmet dem Marxschen »Kapital« eine Ausstellung

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Der erste Blick fällt auf eine ungeheure Menge von weißen Konservendosen, fein säuberlich aufgereiht in Regalen, wie man sie aus Supermärkten kennt. Natürlich, diese Installation soll an den ersten Satz eines weltweit bekannten Buches erinnern: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform«, heißt es in »Das Kapital« von Karl Marx. Vor 150 Jahren erschien der erste Band mit dem Untertitel »Kritik der politischen Ökonomie« in Hamburg. Anlass für das Museum der Arbeit in Hamburg, dem Buch eine Ausstellung zu widmen und die Frage aufzuwerfen, was der Text uns heute noch zu sagen hat.

Durch einen Korridor, an dessen Wänden zentrale historische Daten der modernen kapitalistischen Gesellschaft notiert sind, gelangt der Besucher in den ersten von fünf Abschnitten der Ausstellung: »Schreiben«. Dominiert wird dieser von Zitaten aus Briefen von Marx und Friedrich Engels, die die Entstehung von »Das Kapital« illustrieren. Für Marx-Kenner wird vieles nicht neu sein, aber selbst bei diesen dürfte die illustre Auswahl für erneute Erheiterung sorgen, bei allen anderen sowieso.

Grandios etwa die falsche Prognose über die Beendigung der Arbeit an dem Manuskript. In fünf Wochen, so schreibt Marx 1851 an Engels, werde er mit der »ganzen ökonomischen Scheiße« fertig sein. Pustekuchen! Es dauerte noch 16 Jahre, bis er persönlich die Reise von London nach Hamburg antrat, um dem Verleger Otto Meissner (»netter Kerl, obgleich etwas sächselnd«) das Manuskript zu überreichen. Aufgehalten hatte Marx sein Wissensdurst - immer wieder war noch dies und das zu lesen -, der Zwang, mit journalistischen Texten Geld zu verdienen, das Verfassen politisch intervenierender Arbeiten und schließlich auch Krankheiten. Zum Schreiben musste Marx zumindest sitzen können, doch das war ihm aufgrund von »Karbunkeln am Hintern und in der Nähe des Penis«, nicht immer möglich.

Fertig geworden ist er mit dem Text nie. Als Marx die Belegexemplare aus Hamburg erhielt, fing er sofort mit Umarbeitungen an. Und so wie der Autor nie fertig geworden ist, ergeht es manchem Leser. So dem Ökonomen Thomas Kuczynski. Er erzählt in einem Video, dass er sich seit fünf Jahrzehnten mit dem Marxschen Haupttext beschäftigt und es bereut, hätte er gewusst, wie viel Zeit sein Entschluss, Unstimmigkeiten in der Wertanalyse nachzuspüren, in Anspruch nehmen würde. Aber er fügt hinzu, dass ihm auch nach 50 Jahren noch gelegentlich die Augen aufgehen, wenn er die eine oder andere Stelle in »Das Kapital« liest.

Neben Kuczynski berichten noch weitere mehr oder minder prominente Leser von ihren »Kapital«-Erfahrungen. Zum Beispiel der in Deutschland als Marx-Kenner bekannte Politikwissenschaftler Michael Heinrich. Sein Zettelkasten, bereits als Schüler angelegt, ist nebst seinem ersten Exemplar von »Das Kapital« ebenfalls ausgestellt. Kritisch einzuwenden wäre, dass es nicht geschadet hätte, auch Personen aus den USA, dem globalen Süden oder Lateinamerika über ihre Prägungen durch Marx zu befragen. Denn auch die ausgestellten persönlichen Exemplare von »Das Kapital« stammen von deutschen Lesern. Kurios, dass das Exemplar vom Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz hier neben Exemplaren von Adorno, Brecht und Dutschke zu sehen ist. Aber Scholz war ja mal Anhänger des Stamokap-Flügels bei den Jungsozialisten.

Besser gelungen mit Blick auf die internationale Perspektive ist das Text-Bild-Panorama, das chronologisch die zahlreichen Kapital-Lesarten innerhalb ihrer politischen Kontexte kurz vorstellt. Hier werden französische Lesarten (Strukturalismus), italienische (Operaismus), lateinamerikanische (Theologie der Befreiung) und angelsächsische (analytischer Marxismus) erläutert, um nur wenige Beispiele anzuführen.

Als höchst anschauliche Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ist der Abschnitt »Begreifen« anzusehen. In diesem werden grundlegende Kategorien wie Ware, Tauschwert, Gebrauchswert, Ausbeutung oder Fetischcharakter anhand von markierten Textstellen aus »Das Kapital« und plastischen Darstellungen erläutert. Marx’ Beispiele, um die Wertformen zu verdeutlichen, - Leinwand, Rock, Tee etc. - liegen auf Tischen aus. Klargestellt wird auch, dass es Marx nicht um eine bessere Verteilung innerhalb des Kapitalismus ging, sondern um dessen Überwindung. Seltsam ist es allerdings, dass im Text zum Begriff »Ausbeutung« ein apologetischer Ton überhand gewinnt. Die miserablen Arbeitsbedingungen in Sweatshops der Textilindustrie in Bangladesch werden als einzige Alternative für Frauen bezeichnet, aus agrarischen Strukturen auszubrechen, in denen noch viel geringere Löhne gezahlt würden. Das mag stimmen. Ausbeutung bleibt die Schinderei in den Fabriken aber dennoch. Und der Fokus auf den Aspekt Lohn zeugt davon, dass das Beurteilungskriterium gerade nicht den Horizont der kapitalistischen Gesellschaft überschreitet.

Darum geht es im letzten Abschnitt »Diskutieren«. Der Besucher ist aufgefordert, selbst an der Ausstellung mitzuwirken. Zum Beispiel, indem er auf Zetteln notiert, was für Alternativen zum Kapitalismus er sich vorstellen kann. Bezeichnend, dass die Anzahl der Zettel hier gering ist. Größer ist sie, wenn es darum geht, die herrschenden Zustände zu kritisieren, etwa unter dem Stichwort »Verteilung«. Aber auf der anderen Seite lautet der Untertitel von »Das Kapital« ja auch nicht »Entwurf einer alternativen Gesellschaft«, sondern »Kritik der politischen Ökonomie«. Die Hamburger Ausstellung ist ein gelungener Start in die Marx-Jubiläen - zumal in ihr auch künstlerische Auseinandersetzungen präsentiert werden. Nächstes Jahr wird in Trier, wo Marx vor 200 Jahren geboren wurde, eine große Ausstellung eröffnen. Schirmherr ist übrigens der Bundespräsident.

»Das Kapital«: Museum der Arbeit, Hamburg, bis 4. März 2018

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