Die SPD und Omas Senfeier
Die Berliner Küche ist deftig, hier soll es brutzeln, spritzen, stinken, schwitzen. Gepfiffen auf filigrane Arrangements, auf Schieferbrettchen serviert. Was zählt, ist das Gefühl, einen Briefbeschwerer verschluckt zu haben. Aussehen egal. In Berlin isst man Gerichte, die farblich dem militärischen Flecktarn für Wüstenregionen ähneln. Kasseler, Leber, gepökeltes Eisbein, Bockwurst. Nicht fehlen darf die Kartoffel, die Beyoncé unter den Sättigungsbeilagen, die Queen auf jedem Teller.
Das Essen nimmt beim Berliner einen hohen Stellenwert ein, auch wenn man das aufgrund scheinbarer lukullischer Leidenschaftslosigkeit nicht vermuten würde. Wir befinden uns mitten im Wahlkampf und in diesen Zeiten ist es keinem Thema vergönnt, ungegart durchzurutschen. Die Berliner SPD hat das erkannt und kürzlich eine Broschüre herausgegeben, die sich »Zeit für was Gutes« nennt, Untertitel »Die Lieblingsrezepte unserer Kandidatinnen und Kandidaten für den Deutschen Bundestag«. Was uns hier empfohlen wird, ist eine erfrischend ehrliche Soziologie der Sozialdemokratie.
Los geht es mit Eva Högl, Kandidatin für den Wahlkreis Mitte, die uns als gebürtige Niedersächsin Oldenburger Grünkohl empfiehlt. Bodenständig, das kommt sowohl beim Projektleiter vom Rosenthaler Platz als auch beim Weddinger Schichtarbeiter an. Aber wer zum Teufel besitzt einen Kochtopf, in den fünf Kilo Grünkohl, ein Kilo Kasseler, zwölf Kochwürste und zwölf Oldenburger Pinkel passen? Dazu soll man das Ganze auch noch am Abend vorher zubereiten und erst zwei Stunden vor dem Verzehr aufkochen, das Fleisch vorher wieder rausklamüsern und in einer Auflaufform warmhalten. Frau Högl, der normale Berliner weiß am Vortag noch nicht mal, welche Socken er morgen anziehen soll!
Als Nächster: Klaus Mindrup, Kandidat für Pankow mit seinen Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl. Googleln Sie mal Klaus Mindrup und stellen Sie sich ihn pellkartoffelessend in einer Altbauwohnung im Florakiez vor. Richtig punk ist dagegen Fritz Felgentreu, der in Neukölln zum zweiten Mal direkt gewählt werden will und tatsächlich »Senfeier wie von Oma« kredenzt. Er hätte, ähnlich wie seine GenossInnen zuvor, Anbiederndes wählen können, so wie Ute Finckh-Krämer, die den Zehlendorfern Quarkblätterteig-Pastetchen backt, nein, Felgentreu setzt den Neuköllnern Senfeier vor.
Ganz und gar zu sich selbst Passendes hat Tim Renner ausgewählt, der für Charlottenburg-Wilmersdorf antritt und der, weil er sich als der Zukunft zugewandten Macher sieht, ein Weihnachtsgericht vorschlägt: Ente à l’Orange ist auch bei seiner eigentlich vegetarischen Tochter zu Heiligabend sehr beliebt. Wir erfahren, dass er als Student mal eine Ente geschenkt bekam, was eigentlich schon wieder cool ist, aber nicht, wenn Tim Renner das erzählt. Immerhin geht das Rezept runter wie Öl, das man sich vorgelesen mit der Stimme von Sky du Mont vorstellen muss: »Ich wasche die Ente, trockne sie und reibe sie mit der Gewürzmischung ab.«
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