»Meine Frau hat ein hervorragendes Pilzauge«
Wulstlinge, Porlinge, Röhrlinge. Ein Treffen mit dem Pilzsachverständigen Dr. Dieter Gewalt. Von Adrian Schulz
Pilze sind die Nüsse des Waldes: lecker und beliebt. Wer die schmackhaften »Erdnuggets« (Norbert Blüm) für den heimischen Herd auch einmal selber zu pflücken plant wie Orangen aus einem Topf voll mit Orangenmarmelade, muss jedoch sehr viel beachten. Safety first! Da es bei uns immer Maggi zum Essen gab und im Wald böse Männer, habe ich keine Ahnung. Doch zum Glück gibt es auch dafür einen Fetisch, ja, sogar einen offiziellen Pilzsachverständigen der Stadt Frankfurt am Main: Dieter Gewalt aus Dietzenbach.
Aber die Pilzseminare und -führungen des 77-jährigen Waldboden-Lovers sind begehrt - und restlos ausgebucht (sog. »Pilzwut«). Auch der Verweis auf Bekanntheit und Ruhm bei den werten Lesern dieser Zeitung beeindruckt den rüstigen Pilzboy wenig: »In der Zeitung zu stehen, ist nicht besonders verlockend, das ist in Verbindung mit Pilzen fast schon alltäglich«, schreibt er mir lässig. Dum spiro spero. Später am Telefon bietet Gewalt einen Platz in der Wulstling-Sitzung des Expertenkurses an (»da sind einige der giftigsten Exemplare drunter, aber auch die absoluten Premium-Dinger!«) und sagt ihn danach wieder ab. Einige der Teilnehmer hätten sich um den Lernfortschritt der Gruppe gesorgt, so Gewalt.
Am Boden zerstört, schlafe ich am nächsten Tag bis mittags, masturbiere kraftlos in der Dusche, bis ich einen Tinnitus bekomme. Als ich die Mails öffne, trifft mich der Schlag: Nun also doch! Ein Nachrückerplatz im Anfängerseminar sei freigeworden, schreibt eine Mitarbeiterin der Volkshochschule Offenbach. Das jedoch beginnt in einer Stunde. Jetzt muss es schnell gehen - auf in die Pilze! Vor lauter Euphorie ramme ich meine Hand gegen ein Dings und renne blutend aus der Tür.
Bei Woolworth schwebe ich zur Kasse, ich brauche ja noch Material: Schüssel, Messer, Rahmsoße von Doktor Oetker. Für nur 2,29 Euro erwerbe ich fünf ressourcenschonend geerntete Küchenmesser, eingeschweißt, sowie ein blaues Nudelsieb - da schimpfe noch mal jemand über den Kapitalismus. Die Kassiererin lächelt wissend. Ich renne in die Bahn und haue mir den Knöchel an. Mit den Messern muss ich wirken wie ein Psychopath. Wie einer dieser Sonderlinge, dieser ewig Ausgestoßenen, die ihre Wut über Jahre, Jahrzehnte in sich anstauen und dann, zackbumm: Pilz.
Wenn etwa dreißig beige Alte im Kreis auf einem Waldparkplatz stehen, liebe Leser, dann ist zwar meist Wandertag der SPD-Senioren, aber nicht immer. So auch hier. Herbst, braun, Pilze, Holzkorb, deutscher Wald; SUVs, Sachbearbeiterpärchen, ein kleiner Hund, den ich fortwährend aus Versehen zu erstechen befürchte. »Meine Frau hat ein hervorragendes Pilzauge«, stellt der pilzkundige Gewalt seine Frau vor, dann sich. Er lässt uns an schlimmen Pilzen riechen - der Gemeine Schwefelporling zum Beispiel. »Nehmen Sie nichts mit, was Sie nicht hundertprozentig kennen, lautet die Devise«, lautet die Devise. Neulich seien zwei Kinder in den Wäldern um Frankfurt entlebert worden, weil sie Giftpilze zu essen bekommen hätten. In einem anderen Fall habe ein Osteuropäer nach der Methode »was gut riecht, kommt in die Pfanne« gesammelt. »Ein Wunder, dass er überhaupt 70 Jahre alt wurde!«, findet Gewalt. Mehr Unfälle gebe es nur mit verdorbenen Pilzen, erklärt er und drückt zum Beweis einen solchen »Gammelpilz« zusammen wie einen Schwamm. »Legen Sie die gleichen Standards an Pilze wie an Obst oder Gemüse«, empfiehlt die hessische Pilzkoryphäe und blinzelt mit seinen Lamellen.
Schon ist die Pilzaugenfrau, die, so meint Gewalt, stünde hier irgendwo nur ein einziger Steinpilz herum, den garantiert fände, ab in die Büsche und weg. Zum heiligen Pilznest verschwunden? Gewalt schneidet einen flockenstieligen Hexenröhrling auf, der sich wie magisch verfärbt, von gelb nach schimmelgrün. »Hase!«, ruft er. Schon kommt sie aus einem Baum herausgehüpft. »Die Röhrlinge können Sie alle gefahrlos essen, die sind höchstens magendarmgiftig! Aber es gibt ja so viele Möglichkeiten, sich den Magen zu verderben«, lacht Gewalt knollig. Als nächstes zeigt er uns einen Kartoffelbovist, der sieht aus wie ein toter Käfer. Und, da, Pfifferlinge, die erkenn’ ja sogar ich! Los, ein paar pflücken! Oder sagt man: Schneiden? Herauskratzen? Dem Boden entlocken? Meine ersten Pilze - ein Moment für die Götter! Gerade will ich mein Billigmesser in Anschlag bringen, da schlägt der Hund drauf ab. Huch?
Und dann regnet es plötzlich wie aus Kübeln, und es donnert und blitzt und gewittert, ja, es regnet Pilze, wie man im Odenwald sagt, und ich stehe da mit bemessertem Nudelsieb, leicht rutschender Hose und einer sehr modischen Jacke, die leider nicht wasserfest ist, und frage nach dem Sinn des Lebens.
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