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»Nichts davon war mein freier Wille«
Katharina Sass und Ko-Autorinnen zerpflücken den Mythos »Sexarbeit«
In der aktuell hitzigen Debatte um Prostitution ist viel von einem »ganz normalen Job«, von »freiwillig« oder gar von »sexueller Selbstbestimmung« die Rede. Mit dieser Sichtweise setzen sich die Autorinnen des hier angezeigten Buches kritisch auseinander. Herausgeberin ist Katharina Sass, Initiatorin des Aufrufs »LINKE für eine Welt ohne Prostitution«.
Katharina Sass (Hg.): Mythos »Sexarbeit«. Argumente gegen Prostitution und Sexkauf. PapyRossa, 159 S., br., 13,90 €. |
Prostitution war und ist ein patriarchales Unterdrückungsverhältnis, dessen Opfer zu 90 Prozent weiblich sind, betonen die Autorinnen. Es ist zumeist Armut, die Menschen dazu zwingt, ihren Körper zu verkaufen. Von »freiwillig« und »selbstbestimmt« kann da keine Rede sein. Ulrich Schneider, Vorsitzender des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV) und Mitglied der Linkspartrei, bemerkte einmal treffend in einem Interview: »Armut ist keine Basis für eine freie Entscheidung.«
Laut der Psychotherapeutin Ingeborg Kraus, die sich auf internationale Studien bezieht, leiden etwa zwei Drittel aller Prostituierten unter posttraumatischen Belastungsstörungen, die vergleichbar seien mit jenen von Kriegsveteranen und Folteropfern. Allerdings: »Wenn Sie im Krieg sind, haben Sie eine Schutzhülle, das heißt, Sie sind angezogen, Sie sind bewaffnet … Als Frau in der Prostitution sind Sie nackt«, unterstreicht Ingeborg Kraus.
Das »Nordische Modell«, getragen von Basisorganisationen, Gewerkschaften, linken und grünen Parteien, könne eine Lösung bieten. Die ehemalige Wiesbadener Stadtverordnete der LINKEN, Manuela Schon, belegt dies anschaulich anhand von Beispielen aus verschiedenen Ländern. Kernstück des »Nordischen Modells« ist es, neben der Bestrafung von Zuhältern und Freiern, den Prostituierten echte Ausstiegsmöglichkeiten anzubieten.
Auch die Sexindustrie kennt Lobbyverbände: Inhaberinnen von Domina-Studios, Bordellbesitzer und Betreiber von Escort-Services, die den Abolitionistinnen, also den Aktivistinnen, die gegen das ausbeuterische System Prostitution kämpfen, vorwerfen, über die Köpfe der Prostituierten hinweg zu diskutieren.
»Die Fremdbestimmung geht nicht von den Abolitionistinnen aus«, korrigiert Huschke Mau gegenüber dieser Zeitung, »sondern vom Freier. Sie ist also systemimmanent. Denn der Freier wollte Sex, ich wollte keinen, brauchte aber die Kohle, also stimmte ich der Fremdbestimmung gezwungenermaßen zu.« Marie Merklinger ergänzt: »Ich verdiente Geld damit, dass ich zuließ, dass Männer ihre Körper an mir rieben, sich auf mich legten, in mich eindrangen und ihren Geruch auf mich übertrugen. Nichts davon war mein freier Wille, sondern geschah mangels Alternative, denn ich sah damals keinen anderen Ausweg, um aus meinem finanziellen Jammertal wieder herauszukommen.« Seit 1990 sind in dem angeblich »ganz normalen Job« 141 Prostituierte ermordet worden, 46 überlebten einen Mordversuch knapp. Und das sind nur die Fälle, die bekannt wurden. In welchem anderen »ganz normalen« Beruf gibt es in diesem Land pro Jahr fünf Tote?
Ein Manko des sehr wichtigen, aufklärenden Buches ist, dass die Lobbyverbände zwar erwähnt, aber nicht gesamtgesellschaftlich eingeordnet werden. Außerdem ist die Publikation zu sehr auf die Debatte innerhalb der Partei DIE LINKE zugeschnitten. Dennoch leistet es einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die allgemeine Debatte, was Prostitution ist, bedeutet und was sie mit und aus Menschen macht. Argumentativ überzeugend und faktenreich werden die Mythen um die »Sexarbeit«, die nichts anderes als brutale Ausbeutung und Erniedrigung ist, entzaubert.
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