Mit einem sanften Stups
Wirtschaftsnobelpreis 2017 geht an den US-Verhaltensökonomen Richard H. Thaler
Es ist ein Ärgernis, auf das nicht nur Chirurgen regelmäßig hinweisen: Die breite Mehrheit der Deutschen findet es grundsätzlich richtig, nach dem eigenen Tod Schwerkranken mit einer Organspende zu helfen, doch nur jeder dritte Deutsche ist im Besitz eines Organspendeausweises. Dagegen sind in Österreich fast alle Bürger als potenzielle Spender registriert, die Alpenrepublik gehört zu den Spitzenreitern bei Organtransplantationen. Der Unterschied hängt vor allem mit den staatlichen Regeln zusammen: In Deutschland müssen Bürger ausdrücklich erklären, als Organspender zur Verfügung zu stehen. In Österreich muss man per Widerspruch erklären, nicht zur Spende bereit zu sein.
Warum ein solcher Stups der erfolgversprechende Weg ist, versuchen Verhaltensökonomen zu erklären. Einer der Pioniere, der US-Ökonom Richard H. Thaler, Professor an der Universität von Chicago, ist am Montag mit dem Wirtschaftsnobelpreis 2017 ausgezeichnet worden. »Indem er die Konsequenzen begrenzter Rationalität, sozialer Präferenzen und eines Mangels an Selbstkontrolle erforschte, zeigte er auf, wie menschliche Charakterzüge individuelle Entscheidungen genauso wie Marktresultate systematisch beeinflussen«, teilte die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften zur Begründung ihrer Wahl mit.
Verhaltensökonomen haben seit den frühen 1990er Jahren entscheidend dazu beizutragen, die Unzulänglichkeiten des in der Wirtschaftswissenschaft über Jahrzehnte gepredigten Menschenbilds des immer rational nach eigenem Nutzen entscheidenden Homo oeconomicus aufzuzeigen. Dies besage, dass jeder Mensch »wie Albert Einstein denkt, Informationen wie IBMs Supercomputer Deep Blue speichert und eine Willenskraft hat wie Mahatma Gandhi«, erklärte Thaler einmal. Volkswirte verleite dies zu falschen Politikempfehlungen und dem Postulat, die Politik müsse sich aus der Wirtschaft heraushalten und den immer rationalen Menschen einfach machen lassen.
Dies ist ein klarer Bruch mit dem Neoliberalismus von Milton Friedman, der einst an der gleichen Uni lehrte wie jetzt Thaler. Der 72-Jährige lehnt eine direkte staatliche Bevormundung zwar ab, spricht sich aber für einen »sanften Paternalismus« aus. Der Staat lässt dem Einzelnen die Wahl, bugsiert ihn aber in die gewünschte Richtung mit einem Stups - engl. »Nudge«, wie auch der Titel des Bestsellers von Thaler und Cass R. Sunstein von 2008 lautet.
Dass solche Erkenntnisse für Politiker aller Couleur höchst interessant sind, liegt auf der Hand. Kein Wunder also, dass Thaler zum Beraterteam von Barack Obama gehörte und der konservative britische Premier David Cameron eine »Nudge-Einheit« gründete. Diese testete mit verschiedenen Schreiben vom Finanzamt, wie sich die Anzahl der säumigen Steuerzahler effektiv reduzieren lässt. Ergebnis: Nicht etwa Strafandrohungen oder Hilfsangebote beim Ausfüllen der Steuererklärung brachten den gewünschten Erfolg, sondern eine kleine Bemerkung, dass 90 Prozent der Steuerzahler ordnungsgemäß bezahlt haben. Nicht der Nutzen, sondern der indirekte Appell an das Fairness-Bedürfnis.
Auch sonst verlässt Thaler gerne den Elfenbeinturm. Im Hollywood-Film »The Big Short« erklärt er ganz locker gemeinsam mit der Schauspielerin Selena Gomez am Blackjack-Tisch, wie Kreditausfallderivate funktionieren. Dank solcher Hemdsärmeligkeit neigt er auch nicht dazu, die eigene Bedeutung zu überschätzen. Er räumt ein, dass die Grenze zur staatlichen Bevormundung fließend ist und so manche Schubser gar nicht funktionieren. Man könne von Misserfolgen aber lernen, so sein Forscher-Credo.
Bei Großprojekten wie dem Kampf gegen den Klimawandel ist es mit ein paar Nudges natürlich nicht getan. Trotz alledem: Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die deutsche Gesundheitspolitik in Sachen Organspende mal einen Ruck und den Bürgern den erfolgversprechenden Schubs geben würde.
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