Betreuung statt Abschiebung

Mitte-links-Politiker wollen menschlichen Umgang mit Obdachlosen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Alarmruf des Bezirksbürgermeisters von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), zur seiner Aussage nach nicht mehr tragbaren Situation campierender Obdachloser im Großen Tiergarten schlägt Wellen. Er hatte gefordert, dass auch das Nachdenken über Abschiebung kein Tabu sein dürfe.

»Das ist Alarmismus, gepaart mit Rassismus«, entgegnet seine Friedrichshain-Kreuzberger Parteifreundin Canan Bayram auf nd-Anfrage. »Grüne können nicht Ressentiments schüren, wie einst CDU-Innensenator Frank Henkel während des Flüchtlingsprotests auf dem Oranienplatz«, sagt Bayram. »Diese unnütze Forderung zeigt wohl den Grad der Verzweiflung«, so das scheidende Mitglied des Abgeordnetenhauses. »Wir beraten gerade im Sozialausschuss den künftigen Haushalt. Da soll Herr von Dassel doch sagen, was er an Mehrbedarf hat.«

Auch Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat sich inzwischen in die Diskussion eingeschaltet. Nötig sei eine »ressortübergreifende Lösung« zusammen mit den Senatsverwaltungen für Soziales und Gesundheit, sagte ein Sprecher. Geisel kündigte eine verstärkte Polizeipräsenz im Tiergarten an. Er betonte aber: »Soziale Probleme kann man nicht ausweisen, man muss sie lösen. Mit rein repressiven Maßnahmen wird dies nicht gelingen.« Die Polizei sei verantwortlich dafür, bestehende Regeln durchzusetzen. »Das tut sie bereits. Und sie wird es verstärkt tun.« Es gehe aber nicht nur um Kriminalität, sondern auch um Obdachlose, die dringend Schlafplätze bräuchten, und um Alkoholiker, die betreut werden müssten.

Der Berliner CDU-Innenexperte Burkhard Dregger schließt sich einem Bericht der »Berliner Morgenpost« zufolge der Forderung von Dassels nach Abschiebung an. »Die Personen im Tiergarten sind ohne Adresse. Sie können nur ausgewiesen werden, wenn sie zuvor in Abschiebegewahrsam genommen werden«, sagte Dregger. Der Senat wolle das nicht, dies sei »Realitätsverweigerung«.

»Natürlich hat das Problem campierender Obdachloser mittlerweile stadtweit eine große Dimension erreicht«, sagt Bayram. »Aber arm zu sein und auf der Straße zu leben, ist für sich genommen kein Verbrechen.« Zumal Menschen mit schweren Alkoholproblemen bisher meist von möglichen Unterkünften abgewiesen würden. »Wir müssen dazu kommen, diese Personen erst mal irgendwie unterzubringen, um Sicherheit für sie zu schaffen«, so Bayram.

»Die sehr unglücklichen Äußerungen von Stephan von Dassel stimmen mich eigentlich traurig«, sagt Hakan Taş, Integrationsexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Die Forderungen widersprächen auch dem rot-rot-grünen Koalitionsvertrag, der Abschiebungen überhaupt nicht vorsehe. Wenn, dann werde auf eine freiwillige Ausreise gesetzt. »Wir müssen konsequent darauf hinarbeiten, den Menschen eine Bleibeperspektive zu geben«, erklärt Taş. Bezirksbürgermeister von Dassel hatte sich ebenfalls über sich prostituierende Flüchtlinge im Tiergarten beklagt. Meist seien diese in anderen Bundesländern im Asylverfahren und hätten in Berlin gar keine Unterkunft. »Wir müssen auf Bundes- und Landesebene solche Probleme der Unterbringung lösen«, fordert der Linkspolitiker.

»Ich verstehe die Äußerungen von Dassels als fremdenfeindlichen Populismus«, sagt Rüdiger Lötzer, sozialpolitischer Sprecher der LINKEN in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Mitte. Es gebe schon eine lange laufende Debatte über den Umgang mit dem Thema. Die Linkspartei hatte bereits im März den Antrag eingebracht, ein Moratorium über die Räumung von campierenden Obdachlosen zu verhängen. Alle Parteien außer der AfD stimmten am 18. Mai schließlich dafür.

»Bisher haben Wohnungslose aus EU-Staaten keinen Anspruch auf Unterbringung«, erklärt Lötzer. Es gebe Gespräche zwischen Sozialverwaltung und Bezirken, dafür eine pragmatische Lösung zu finden. Noch ist es allerdings nicht so weit.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -