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Berlin: Kurzer Atem beim Schutz vor Partnergewalt
Zum Schutz vor häuslicher Gewalt fordern Expertinnen finanzielle Stabilität und eine Verantwortungsübernahme der Gemeinschaft
Die Zahlen kennen wir alle, sie sind besorgniserregend.» Mit diesen Worten eröffnete Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) den Fachtag «Aktiv gegen Partnergewalt in Berliner Stadtteilen». Im vergangenen Jahr seien die Zahlen der Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland um 10 000 gestiegen. Aber, so betonte Kiziltepe: «Stop zeigt, dass Veränderung möglich ist.»
Das Modellprojekt Stadtteile ohne Partnergewalt (Stop) arbeitet seit 2023 in den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Spandau und stärkt soziale Netzwerke, um Partnergewalt nicht länger zu dulden und zu verschweigen. Dafür aktiviert das Projekt Nachbarschaften, um mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Um Normen und Haltungen zu ändern, setzt das Projekt auf Bewusstseinsbildung, Wissen teilen und informelle Bildung für Erwachsene. Es wird zur Früherkennung auf Anzeichen für häusliche Gewalt aufmerksam gemacht, durch Gespräche das Thema entstigmatisiert und es werden Ressourcen geteilt. Das geschieht unter anderem während feministischer Stickkreise, Gartengruppen und an Ständen auf Flohmärkten. Ziel ist es, vertraute Gemeinschaften aufzubauen, die auch über schwierige Themen wie häusliche Gewalt reden. Das Projekt wird von der Senatssozialverwaltung und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung kofinanziert.
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Doch die Förderung von Stop läuft 2025 wieder einmal aus und müsste neu verhandelt werden. Mehrere Teilnehmer*innen betonen während des Fachtages, dass häusliche Gewalt kein Einzelfall sei, sondern ein strukturelles gesamtgesellschaftliches Problem. Um es zu lösen, brauche es verlässliche Förderung.
In Deutschland wird jede dritte Frau in ihrem Leben Opfer häuslicher Gewalt. In Berlin wurden 2025 neun Frauen durch solche Gewalt getötet und weitere 66 Frauen schwer verletzt. 2024 wurden in Berlin 29 Frauen Opfer eines sogenannten Femizides, bei dem Mädchen und Frauen getötet werden, weil sie weiblich sind. Bundesweit waren es im Jahr davor 360 Frauen.
Die Berliner Kriminalstatistik für 2024 meldete 19 213 Opfer durch Gewalt in Partnerschaft und Familie. Es gibt allerdings ein erhebliches Dunkelfeld. Laut Kiziltepe wird davon ausgegangen, dass nur 11 Prozent aller begangenen Taten gemeldet werden.
Die Frauen und Mädchen, die Schutz benötigen, können diesen nicht immer bekommen. Das berichtet Nua Ursprung, Referentin bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG). Der Verein betreibt unter anderem eine Hotline für Opfer häuslicher Gewalt. Ursprung sagt, dass BIG täglich 10 bis 15 Frauen in Berlin keinen Platz bieten könne, an dem sie geschützt sind. Obwohl Deutschland die Istanbul-Konvention unterzeichnet hat, die vorgibt, dass der Schutz vor häuslicher Gewalt gewährleistet werden muss, fehlen in Berlin 486 Plätze in Frauenhäusern. «Die Realität ist unerträglich», findet Juliane Fischer-Rosendahl, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte in Spandau. Fischer-Rosendahls Bezirk verzeichnet eine 40 Prozent höhere Quote an häuslicher Gewalt als Gesamtberlin.
Damit Stop wirken kann, braucht es Zeit. Studien zeigen, dass Stop-Projekte zehn Jahre laufen sollten, um die Wirkung der Arbeit zu messen. «Ich habe die Nase voll von Projektitis», sagt Sabine Stövesand, Gründerin und Entwicklerin von Stop, zum Thema der Finanzierung. Damit bezieht sie sich auf die immer nur kurzfristige Einjahresförderung, die Stop erhalte. Diese müsse regelmäßig beantragt und neu verhandelt werden. Was jetzt benötigt werde, sei langfristige und sichere Förderung und mehr Stop-Stellen.
«Letztendlich entscheidet nicht die Verwaltung, sondern die Politik, wie das Geld fließt», erklärt Ingo Siebert, Leiter der Geschäftsstelle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt. Es ist eine schwierige Lage für ein Projekt, das Menschen betreut, die nicht warten können, bis die Politik einen Weg durch die Bürokratie gefunden hat und eine langfristige Förderung sichert. Angesichts von Kürzungen sagt Siebert: «Wir machen Krisenmanagement in vielen Bereichen.» Er erinnert das Publikum: «Ihr müsst euch auch um eure Politiker*innen kümmern. Es ist der Kampf der Zivilgesellschaft, damit umzugehen.» Siebert bedauert auch, dass man die Verantwortung der gesamten Gesellschaft aus den Augen verliere, wenn Fälle häuslicher Gewalt weiter als Einzelfälle betrachtet werden.
«Das Erlöschen eines Lebens, da nicht genügend Geld geflossen ist, muss ernst genommen werden.»
Juliane Fischer-Rosendahl
Frauenbeauftragte
Wie könnte eine Politik aussehen, die häusliche Gewalt und Femizide bekämpft und Präventionsarbeit ernst nimmt? Mit dem kürzlich im Bundestag verabschiedeten Gewaltschutzgesetz gibt es das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einen individuellen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung. Dieses Recht gilt jedoch erst ab dem 1. Januar 2032. «Bis dahin sollte ernsthaft über ein Sondervermögen für die sofortige Stärkung der Gewaltprävention in Ländern und Kommunen bis zur Entfaltung der Wirkkraft des Gesetzes nachgedacht werden», findet die Gleichstellungsbeauftragte Fischer-Rosendahl. «Das Erlöschen eines Lebens, da nicht genügend Geld geflossen ist, muss ernst genommen werden.»
Sie zeigt sich frustriert, wie rückständig Deutschland und Berlin im Vergleich zu anderen Ländern seien. So hatte Spanien schon 2004 einstimmig ein Gesetz verabschiedet, das dazu führte, dass es dort nur noch halb so viele Femizide gibt. Fischer-Rosendahl fragt: «Haben wir in den letzten Jahren so wenig dazugelernt?»
Ingo Siebert kritisiert die Debatten um Gewalt vor der Bundestagswahl. «Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Notstand aufgrund von Femiziden ausgerufen wurde», sagt er.
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